Über den Umgang mit anderen Möglichkeiten » Eine Erwägungskultur ist eine Fehlerkultur ist eine Kontingenzkultur | Werkstattnotiz LX

Wir neigen ja gemeinhin dazu, die Menschheit in verschiedene Gruppen einzuteilen. In Männer, die angeblich toll einparken können1 und in Frauen, die trotz überquellender Kleiderschränke nichts zum Anziehen finden.2 Eine andere Art der Schubladisierung wäre ja – wie wir gestern lernen durften 3 – diejenige in die geringgebildeten Dicken einerseits und die dünne Bildungselite andererseits.

Die Menschheit zerfällt in zwei Gruppen: in diejenigen, die glauben, es gäbe richtige und falsche Entscheidungen. Und in diejenigen, die nüchtern genug sind und wissen, daß es so einfach niemals ist.

Mir persönlich sind solche Kategorisierungen ja eher suspekt. Wäre ich gezwungen dennoch eine Unterscheidung vorzunehmen, dann möglicherweise diejenige zwischen Menschen, die glauben es gäbe prinzipiell richtige und falsche Entscheidungen4 und Menschen, die wissen, daß es allenfalls bessere und schlechtere Entscheidungen geben kann, niemals aber eine einzige unzweifelhaft optimale Lösung.

Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen ist ein kurzes Interview in der ZEIT von vergangener Woche. Unter dem Titel "Erwägungskultur" gibt die Kulturwissenschaftlerin Bettina Blanck von der Universität Paderborn Auskunft "über neue Formen im wissenschaftlichen Diskurs". Das klingt spannend, verspricht aber mehr als das Interview hält. Denn um den wissenschaftlichen Diskurs geht es im Gespräch nur ganz am Rande.

Dennoch sind die Antworten von Bettina Blanck anregend, denn die Zielsetzung einer "Erwägungskultur" formuliert sie bspw. so:

Wir wollen Alternativen als Denkmöglichkeit bewahren. Sie sind für uns ein Gütesiegel, mit dem wir besonders für Forschung und Lehre ein höheres Niveau anstreben. Die Vermittlung von Wissen verändert sich durch ein Denken in Möglichkeiten und die Frage: Könnte es auch anders sein?

Und wenn von "Alternativen als Denkmöglichkeiten" die Rede ist und der ganz basalen Frage: "Könnte es auch anders sein?" werde ich natürlich hellhörig. Denn genau das ist der zentrale Punkt, an dem wissenschaftliche (und in der Folge häufig genug gesellschaftliche) Kontroversen aufbrechen. Denn wenn es bspw. um neue Technologien geht, dann sind stets Risikoerwägungen zu treffen, deren neuralgische Stelle just diese simple Frage ist: "Könnte es auch anders sein?"

Jede Risikodebatte dreht sich im Kern um die Frage: "Könnte es auch anders sein?" – Und hier stoßen (Kontingenz-)Leugner und Kontrollskeptiker aufeinander.

Aktuelles Beispiel für eine Enttäuschung der Eindeutigkeitsversprechen: die Impfung gegen Gebärmutterhalskrebs ist riskanter als gedacht

Nehmen wir als Beispiel die aktuelle Diskussion um die Risiken der sog. HPV-Impfung. Eine Infektion mit humanen Papillomviren ist einer der Hauptrisikofaktoren für Gebärmutterhalskrebs und seit Ende 2006 steht unter dem Namen "Gardasil" ein Impfstoff zur Verfügung, der gegen die meisten HPV-Typen schützen soll.5 Seit im Oktober 2007 eine 19-jährige Österreicherin im direkten Zusammenhang mit einer Gardasil-Impfung verstarb,6 wird nun debattiert, ob die Impfung nicht doch versteckte Risiken birgt und lediglich fragwürdigen Nutzen bietet.7

Dieser Fall ist wieder einmal beispielhaft dafür, wie sich scheinbare Eindeutigkeiten binnen weniger Wochen8 in Mehrdeutigkeiten und Unsicherheiten verwandeln.9 Denn bislang empfahl die Ständige Impfkommission (Stiko)10 die Impfung für Mädchen im Alter von 12-17 Jahren. Nach deren Wunsch sollen alle Mädchen der fraglichen Altersgruppe vorbeugend geimpft werden, was – jede einzelne Impfung schlägt mit knapp 500 Euro zu Buche – grob gerechnet für jeden (Mädchen-)Jahrgang die Kassen eine halbe Milliarde Euro kostet.11 Man sollte glauben, solche großangelegten und immens teuren Entscheidungen würden nur unter der Voraussetzung einer gesicherten Wissens- und Datenbasis getroffen, oder?

Weit gefehlt – und über die Aufregung um die Risiken der HPV-Impfung kann sich wohl nur derjenige wundern, der in meiner obigen Kategorisierung zu der ersten Gruppe gehört: also zu den Zeitgenossen, die felsenfest davon ausgehen, daß es richtig und falsch gibt. Oder anders formuliert: wer glaubt, daß man prinzipiell genug wissen kann, um ganz – also 100%! – sicher zu sein, der wird enttäuscht sein, wenn sich im nachhinein herausstellt, daß sich die Dinge doch anders verhalten.

Über die Vorteile einer Erwägungskultur

Was das alles mit einer Erwägungskultur und Risikokontroversen zu tun hat? Sehr viel, denn wie ich vorhin schrieb, entzünden sich die Konflikte meist zwischen den Angehörigen der beiden Gruppen: einerseits die Eindeutigkeitsjünger, andererseits die Skeptiker. Und die Skeptiker leben eben nach dem Motto: "Es könnte auch anders sein…" ;-)

Wenn uns am Fortbestand unserer Zivilisation liegt, dann sollten wir anerkennen, daß unser Kontrollglaube häufig mehr ein Kontrollaberglaube ist.

Für wünschenswert – und übrigens auch für den Fortbestand der menschlichen Zivilisation unabdingbar – hielte ich ja, daß wir mehr und mehr lernen könnten, daß unser Kontrollglaube häufig mehr ein Kontrollaberglaube ist. Denn wer der Illusion anhängt, seine Entscheidungen auf der Basis eindeutigen, gesicherten Wissens zu treffen, der wird viel weniger über die Folgen seines Handelns nachdenken.12 Und viel zu früh andere Denk- und Handlungsmöglichkeiten verwerfen, die später auch kaum mehr reaktiviert werden können.

Ich hätte nichts dagegen, wenn wir in deutlich mehr Bereichen eine Erwägungskultur etablieren könnten. Denn im Umgang mit Vielfalt, im Umgang mit begrenztem Wissen ist es auf lange Sicht ratsamer, auf etwaige negative Folgeerscheinungen gefaßt zu sein. Daß wir stets nur "Entscheidungen unter Unsicherheit" treffen, sollte ja kaum bestreitbar sein…

Und Erwägungskultur meint nichts anderes als den Blick für andere Alternativen zu öffnen. Und hier ist sie eng verwandt mit einer Kontingenzkultur: nämlich dem Bewußtsein, daß alles jeweils auch anders möglich sein könnte. 

 
 


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Literaturempfehlungen: 

 

  1. Ich warte ja, bis einer der Craig-Venter-Jünger das Einpark-Gen auf irgendeinem Chromosom lokalisiert. []
  2. Und ich warte, bis der Kleiderschrank serienreif ist, der (ähnlich wie wir es von Amazon und Co. kennen) Vorschläge unterbreitet – gemäß dem Motto: "An Tagen an denen Sie diesen Rock getragen haben, haben sie auch diese Bluse, dieses Top, diesen Rollkragenpullover…" ;-) []
  3. Minister Seehofer präsentierte die Ergebnisse der "Nationalen Verzehrstudie", wonach das Körpergewicht mit dem Bildungsstand korreliert. []
  4. Und diese Entscheidungen seien eindeutig und unumstößlich. []
  5. Wohlgemerkt taugt der Impfstoff nicht gegen alle Varianten des Virus und es ist epidemiologisch auch nicht wirklich überzeugend belegt, daß die HPV-Impfung zuverlässig gegen Zervixkarzinome schützt. []
  6. Und dutzende weitere Verdachtsfälle auf Schäden und einige weitere ungeklärte Todesfälle etc. publik wurden. []
  7. Mehr Informationen zu den Diskussionen um die Risiken der HPV-Impfung finden sich wie so oft in der "Stationären Aufnahme" – z.B. hier und hier und hier. []
  8. Und selbst vor so sicher geglaubten Glaubenssätzen, wie demjenigen, daß Olivenöl gesund ist, schrecken die Skeptiker nicht mehr zurück. ;-) []
  9. Woran die Todesfälle wirklich lagen, kann ich natürlich auch nicht sagen. Waren es nun immunologische Fehlreaktionen, die durch Gardasil ausgelöst wurden oder war es doch nur Zufall? []
  10. Die im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums die Empfehlungen zu Schutzimpfungen erarbeitet und am Robert-Koch-Institut angesiedelt ist. []
  11. Natürlich sind die Versprechen und Zahlen der Impfstoffhersteller (Sanofi Pasteur MSD) wieder vollmundiger und sie verschweigen, daß eine Impfung keineswegs absolute Sicherheit bietet etc. []
  12. Und diejenigen, die vor den Nebenwirkungen warnen, als Fortschrittsfeinde beschimpfen… []

6 Gedanken zu „Über den Umgang mit anderen Möglichkeiten » Eine Erwägungskultur ist eine Fehlerkultur ist eine Kontingenzkultur | Werkstattnotiz LX“

  1. Die Forderung nach Erwägungskultur kommt mir bekannt vor. Sie wurde schon bei Popper als Falsifikation beschrieben. Anstatt ich versuche eine Theorie zu beweisen, versuche ich das Gegenteil. Dadurch bin ich gezwungen mich viel ernster mit Kritiken auseinander zu setzen und erkenne dadurch viel leichter noch offene Probleme.

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  2. @Sebastian:

    Wenn ich von einer „Erwägungskultur“ spreche, dann geschieht dies natürlich unter der Grundbedingung, daß ich von einer Fehlbarkeit des Menschen ausgehe. Menschen sind irrtumsanfällige Wesen. Und hier ist Popper nicht weit, dessen Verdienst es ja war, der (allzu) selbstsicheren Wissenschaft beigebracht zu haben, daß ihre Aussagen doch nur quasi-vorläufigen Charakter haben können.

    Und für Popper muß eben jede wissenschaftliche Aussage die Bedingungen mitformulieren, unter denen sie widerlegt ist. Das ist das Prinzip des Falsifikationismus. Anders formuliert: Wissenschaft muß die Möglichkeit des Scheiterns bzw. des Irrtums mitdenken und darf sich nicht dagegen immunisieren.

    Allerdings ging es mir weniger um die Angabe von Bedingungen, unter denen eine Aussage falsifiziert werden könnte, sondern um das Bewußtsein, daß andere Wege, andere Lösungen ebenfalls gangbar wären. Oder als Leitsatz formuliert: Begebe Dich nie in Situationen, in denen Du keine Alternativen mehr hast.

    Und bei diesem Prozeß – also des diskursiven Austauschs von Argumenten und Positionen – sehe ich weniger Popper, als viel mehr Habermas als Pate – wenn wir schon einen großen Namen bemühen müssen. ;-)

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  3. @Jörg:

    Ach, und ich dachte schon, ich hätte die Idee und Lösung für dieses „Nichts-zum-Anziehen-trotz-voller-Kleiderschrank-Paradox“. ;-)

    Ich kannte das bislang nur von „intelligenten“ Kühlschränken, die mich vor dem Wochenende noch erinnern, daß ich noch Milch kaufen muß oder die Bestellung gleich selbstständig ausführen.

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  4. @Oli:

    Ach, alter Quer- und Genaudenker! Daß Du wieder zielsicher die Achillesferse der Argumentation ausfindig machst, war ja zu befürchten. ;-)

    Das ist zugegebenerweise natürlich immer ein Einwand, der sich bestens als Einstieg in Endlosdiskussionen eignet. Das ist dann in gewisser Weise der Preis, den man für ein solches „Schwaches Denken“ zahlen muß – denn konsequenterweise muß die Behauptung, daß jede Aussage beobachterabhängig, somit relativ und folglich nicht absolut gültig ist, dieses Urteil auch für sich selbst gelten lassen.

    Wer sich einmal von der Möglichkeit absolut wahrer Sätze verabschiedet, muß sich wohl immer vorhalten lassen, daß er sich dessen ja auch nicht so sicher sein könne. Trotzdem mag ich mir diesen „Luxus“ weiterhin leisten und frech behaupten: wer behauptet, im Besitz von unbezweifelbarem Wissen zu sein, lügt! :-)

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