„Den intellektuellen Reichtum teilen“ – Die Zukunft des Open-Access-Modells und die Mutlosigkeit von Robert Darnton | Werkstattnotiz LXXI

Vor drei Wochen gab die geisteswissenschaftliche Fakultät der Harvard Universität bekannt, daß man einen zentralen Publikationsserver einrichten werde, der alle Artikel der Wissenschaftler gemäß des Open-Access-Prinzips bereitstellen wird. Diese Nachricht wurde von Sympathisanten der Open-Access-Bewegung erfreut zu Kenntnis genommen. Denn der Symbolwert dieser Entscheidung ist nicht zu unterschätzen. Nun äußert sich Robert Darnton, der Harvard-Bibliotheksdirektor, zu den Hintergründen.

Das Interview mit dem Harvard-Bibliotheks-Chef Darnton ist informativ und irritierend zugleich: ist der Mann wirklich so wankelmütig oder hat man bei der Übersetzung den Interviewtext verhunzt?

Das heute in der FAZ erschienene Interview mit dem Buchhistoriker und Bibliothekschef Darnton ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Einerseits werden einige wichtige Aspekte und Fehlentwicklungen des akademischen Publikationskultur angesprochen, andererseits sind Präsentation und einige Aussagen des Interviews etwas fragwürdig.

Denn anstatt zu differenzieren und für mehr Aufklärung zu sorgen, werden Äpfel fröhlich mit Birnen vermischt und bei einigen Passagen bin ich mir nicht sicher, ob Jordan Mejias – der das Gespräch führte – alles richtig verstanden hat oder ob es "nur" Übersetzungsfehler sind.

Aber der Reihe nach – wie gesagt: am 12. Februar gab die "Faculty of Arts und Science der Harvard University" bekannt, daß künftig alle Artikel ihrer Mitarbeiter obligatorisch auf einem sog. "Institutional Repository" zugänglich gemacht werden. Sollte ein Wissenschaftler bereits anderweitig Vereinbarungen mit Verlagen getroffen haben, so muß er dies dem Dekan der Fakultät anzeigen.1 Es ist also zu erwarten, daß ein überragender Teil aller Fachartikel der Fakultätsmitglieder künftig weltweit und unentgeltlich verfügbar ist.

In der New York Times wurde Darnton vor drei Wochen folgendermaßen zitiert

“In place of a closed, privileged and costly system, it will help open up the world of learning to everyone who wants to learn,” said Robert Darnton, director of the university library. “It will be a first step toward freeing scholarship from the stranglehold of commercial publishers by making it freely available on our own university repository.”

Soweit ich sehe nimmt das heutige FAZ-Interview ebenfalls v.a. auf diese Entscheidung und die Open-Access-Initiative Bezug. Allerdings lautet der einführende Absatz folgendermaßen:

Die Bibliothek der Harvard University will ihre Bücher und Zeitschriften fast unbegrenzt im Internet zugänglich machen.

Das ist leider ziemlich irreführend. Denn es geht aktuell vorrangig um die Etablierung eines Open-Access-Servers, der alle neu erscheinenden Fachartikel der Harvard-Wissenschaftler enthält und verfügbar macht. Der Bücher und Zeitschriftenbestand ist davon grundsätzlich zu unterscheiden. Zwar kooperiert Harvard mit Google, das einem bestimmten Teil der Bibliothek digitalisiert, aber dabei handelt es sich meines Wissens um gerade 40.000 Titel, die – was ebenfalls logisch ist – älteren Datums sind und somit keine bestehenden Urheberrechte mehr verletzen.2

Mehr Klarheit bitte!

Ich habe mich kurz nochmal schlau gemacht, aber soweit ich sehe, gibt es keine neuen Initiativen, die eine Digitalisierung der gesamten Harvard-Bibliothek vorsehen. Insofern finde ich es etwas rätselhaft, wieso die FAZ diesen Aspekt als "Aufmacher" hernimmt.

Nochmal zur Klarheit: es gibt einerseits den Bestand der Harvard-Bibliothek, also alle Bücher und Zeitschriften, die diese über Jahrzehnte angeschafft und archiviert hat. Davon werden manche Titel digitalisiert und somit online verfügbar gemacht. Andererseits gibt es die Entscheidung einer (!) Fakultät, daß künftig die jeweiligen Artikel der eigenen (!) Wissenschaftler primär gemäß des Open-Access-Prinzips publiziert werden. Das eine hat, liebe FAZ, mit dem anderen so gut wie nichts zu tun!

Im Interview geht es dann – was kaum verwundert – um die jüngste Entscheidung, die eben das Open-Access-Modell weiter populär macht. Robert Darnton erläutert:

Denn genau wie eine große Universitätsbibliothek ihre Bestände dem Rest der Welt durch Digitalisierung zugänglich machen sollte, woran wir zurzeit hart arbeiten, sollten auch Forschungsergebnisse frei verfügbar sein. Diese Richtung hat auch zum Ziel, Harvard zu ermuntern, weniger nach innen als nach außen zu blicken. Wir wollen unseren intellektuellen Reichtum mit allen teilen.

Das ist schön gesagt und man kann ihm nur zustimmen. Für Stirnrunzeln sorgt bei mir dann aber folgende Passage – es geht darum, daß die Wissenschaftler ja nicht verpflichtet werden, auf dem Fakultätsserver zu publizieren, es also immer noch eine freiwillige Entscheidung ist:

Den Hintergrund dafür bilden die eskalierenden Preise akademischer Zeitschriften, was eine Bedrohung für das Wesen der Forschung darstellt. Es wäre falsch, unseren Gang ins Internet als Deklaration gegen die Verlage zu verstehen, die teure Zeitschriften herausgeben. Sie werden ihre Verfahrensweise nicht ändern, nur weil Harvard jetzt ein „Open access“-Depot hat.

Was jetzt? Darnton kritisiert einerseits die "eskalierenden Preise akademischer Zeitschriften", redet im Interview mit der New York Times (s.o.) gar vom "Würgegriff" der Verlage, möchte aber die Initiative dennoch nicht als Kritik an der Verlagspolitik verstanden wissen? Wieso ist der Junge so unentschieden? Denn kurz darauf gibt er zu Protokoll:

Wir wollen nicht die Zeitschriftenpreise unter Druck setzen, wir wollen die Natur des Kommunikationssystems in der Welt des Lernens verändern. Einige hier in Harvard haben nun gesagt: Vielleicht sind die Zeitschriften von Elsevier und Springer und Wiley ja wirklich zu teuer, aber wie steht es um die kleinen Forschungsjournale und die Organisationen, die sie herausgeben? Müssten die nicht Abonnenten verlieren, wenn Harvard Artikel frei zum Herunterladen anbietet?

Tja, wirklich schlau werde ich aus diesen Ausführungen nicht. Einerseits will man "die Natur des Kommunikationssystems in der Welt des Lernens verändern" (dafür erhält er von meiner Seite aus Applaus), aber er dementiert, daß man die die Zeitschriftenpreise damit unter Druck setzen wolle, obwohl er zwei Absätze zuvor noch sagte, daß diese eine "Bedrohung für das Wesen der Forschung" darstellen? So ganz kann ich es nicht glauben, daß Herr Darnton so verwirrtes Zeug erzählt. Denn kurz darauf wird er wieder zum Visionär – zumindest fast:

In zehn Jahren könnten, nach dem Vorbild von Harvard, alle wichtigen Forschungsbibliotheken „Open access“-Depots haben. Damit hätten wir eine völlig andere Lage. Für die kleinen Zeitschriften wäre das höchst gefährlich. Aber bis dahin wird sich die gesamte Forschungslandschaft verändern, werden neue wissenschaftliche Komplikationen auftreten. Es ist wenig ergiebig, über eine Zukunft nachzudenken, die wir uns nur schwer vorstellen können.

Der Aspekt mit den kleineren Verlagen ist bedenkenswert, aber den letzten Satz finde ich ja köstlich, denn er redet über eine Zeitspanne von 10 Jahren und weigert sich darüber nachzudenken, wie dann das Publikationswesen strukturiert sein könnte? Seltsam. Ansonsten erzählt er noch vernünftige Sachen und weist darauf hin, daß uns vermutlich eher eine Koexistenz von gedruckten und Online-Texten bevorsteht und das Ende der Gutenberg-Kultur also noch auf sich warten läßt.

Altes und Neues koexistieren oft in einer Art Äquilibrium, die immerfort im Wandel ist. Ich könnte mir vorstellen, dass elektronische und gedruckte Veröffentlichungen gut miteinander auskommen, ja einander stärken, dass der revolutionäre Wandel also nicht zur Vernichtung einer bewährten Technik führen muss.

Tja, insgesamt ein lesenswertes Interview, wenn auch einige Ungereimtheiten bestehen bleiben. Wer mag sich bei der FAZ erkundigen, ob sie das Gespräch durch den Redaktionspraktikanten haben übersetzen lassen? ;-) 

 


 

Links:

  1. Das Modell funktioniert also nach einem sog. "Opt-Out-Prinzip". Wer nicht teilnehmen will, muß dies aktiv mitteilen. []
  2. In einem der letzten Absätze kommt das Gespräch auch kurz darauf und Darnton erwähnt, daß man eben Titel digitalisiere, deren Urheberreche nicht mehr problematisch seien… []

1 Gedanke zu „„Den intellektuellen Reichtum teilen“ – Die Zukunft des Open-Access-Modells und die Mutlosigkeit von Robert Darnton | Werkstattnotiz LXXI“

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