Charmante Leichenfledderei » Erdmöbel bitten zum Tanz

Die Geschichte der Popmusik ist eine Geschichte voller Mißverständnisse. Am weitesten verbreitet ist der bedauerliche Irrglaube, daß sich die Qualität von Musik an deren Hitparadenposition ablesen ließe. Dicht gefolgt von der Annahme, ein erfolgreicher Song müsse nach spätestens einer Saison den gequälten Formatradiokonsumenten erneut in die Gehörgänge geschleust werden; diesmal freilich in der glitzernden Verpackung einer aufgepeppten Coverversion.

Die ganze wahre Wahrheit erfolgreicher Popmusik  

Es wird nun allerhöchste Zeit, um mit diesen Mythen der Populärkultur abzurechnen. Denn erstens: kein einziger Charterfolg korreliert in irgendeiner Weise mit einer Eigenschaft, die auch nur im entferntesten Sinne als Qualität, Niveau oder Kunst aufzufassen wäre. Die Spitzenposition eines Songs in der Verkaufszahlenrangliste resultiert einzig und allein aus dem Umstand, daß irgendein nichtsnutziger Praktikant in einer beliebigen Musikredaktionsstube dieser Republik beim Durchhören der unzähligen CDs, die von den Plattenfirmasklaven schubkarrenweise angeliefert werden, schließlich bei einem Song, der ihm durchschnittlich und banal genug erscheint, um in die Heavy-Rotation seines Senders eingespeist zu werden, ein Kreuzchen macht.

Dieses Kreuzchen wird von den Redaktionspraktikanten allerdings nur an den Rand solcher Titel gesetzt, bei denen sie mit hinreichender Sicherheit davon ausgehen können, daß sie die Radiohörer keinesfalls aus dem Büroschlaf hochschrecken lassen oder sonstwie irritieren.1 Denn, die ausschlaggebenden Kriterien, denen zufolge Hits gemacht werden, sind Überraschungsfreiheit, Innovationsferne und v.a. die Hörgewohnheitsadäquanz. Da die Hörgewohnheiten der überwiegenden Mehrheit der fraglichen Zielgruppe bereits zuverlässig auf ein enttäuschungsfestes Minimalniveau nivelliert sind,2 ist das herausragende Merkmal jedes künftigen Charthits, daß er sich nahtlos in den gewohnen Musikeinheitsbrei einpaßt.

Insuffizienzen der auditiven Mnemonik  

Nun aber zur Widerlegung des zweiten popmusikalischen Irrglaubens, der Coverversionen wahlweise als besonderen Ehrerweis gegenüber den Interpreten früherer Tage oder aber als Gütesiegel erachtet. Dabei ist es mehr als rätselhaft, daß sich überhaupt vernunftbegabte Zeitgenossen finden, die voller Glückseligkeit eine mit nervösen Beats unterlegte Neuauflage eines abgeschmackten Tom-Jones-Krachers käuflich erwerben, obwohl sie die kaum davon unterscheidbare Originalversion bereits im heimischen CD-Regal stehen haben.

Dieses Phänomen ist ausschließlich einer sonderbaren Doppelinsuffizienz der auditiven Verarbeitungsprozesse zuzuschreiben, unter der offenbar die meisten Hit-Radio-Hörer leiden. Einerseits ist bei ihnen das explizite Hörerinnerungsvermögen nur äußerst schwach ausgeprägt, so daß ihnen der wiederholte Aufguß der meist schwer erträglichen Songs nicht weiter auf- und mißfällt. Andererseits zeichnet sie ein äußerst sensibles implizites Hörgedächtnis aus; dies führt im Ergebnis dazu, daß die auditiven Zentren der Hörverarbeitung (sobald die ersten Takte einer Coverversion die Gehörgänge umschmeicheln) sofort ganze Kanonensalven in Richtung des Areals der Großhirnrinde feuern, das für sentimentale Gefühlswallungen verantwortlich ist. Dort werden also schlagartig wohlige Gefühle der Gewohnheit, Bekanntheit, Zuverlässigkeit und Heimat aktiviert.

Das Hören einer Coverversion belohnt uns also kraft derselben perfiden Strategie wie unser täuschungsanfälliges Geschmacksorgan, das uns frohlocken läßt, wenn Mutti mal wieder ihren berühmten Kartoffeleintopf zubereitet hat, der allerdings jedem, der mit dem Genuß des Eintopfs nicht ebenfalls die sonnig-unbeschwerten Tage der Kindheit assoziiert, sofort den Brechreiz hochsteigen läßt.

Die Annäherung an die nivellierte Geschmacksunterschicht

Zusammenfassend: was also beklatscht wird und in den Top Ten zu finden ist, ist entweder der verhängnisvollen Koalition zwischen unserer auditiven Vergeßlichkeit und unserer Erinnerungsduselei zuzuschreiben (unter diesen Umständen handelt es sich um Coversongs), oder es handelt sich um Popsongs, die genau die skizzierten Prozesse zu simulieren verstehen: also dadurch, daß sie sich vom bekannten Allerlei nur in homöopathischen Nuancen unterscheiden, wecken sie die bekannt wohligen Gefühle (dann sprechen wir von Charterfolgen, obwohl es sich um keine dezidierte Coverversion handelt).

Was wir also tagtäglich in den Radios und Musiksendern vorgesetzt bekommen, ist – man kann es nicht oft genug wiederholen – der kleinste gemeinsame Nenner aller Geschmacksvorlieben und -gewohnheiten. Meistens tut das nicht weh, dazu liegt die Reizintensität des weichgespülten Mainstreams zu niedrig, aber häufig ist es schlicht unerheblich und ärgerlich. Es ist dasselbe Spiel wie beim Fastfood: was in den Pommes- und Burgerbratstuben über den Tresen geht, macht satt und es wird einem selten übel. Dennoch käme wohl kaum jemand auf die Idee zu behaupten, im industriell genormten Big Mäc erreiche die abendländische Kulinarik ihre raffinierteste Ausprägung.
Es bleibt dabei: Coverversionen altbekannter Gassenhauer sind niemals raffiniert, sondern allenfalls Indiz eigener Ideenlosigkeit.

Wie man in den Schuhen von Audrey Hepburn auf den Schultern von Giganten steht

Am 25. Mai 2007 wird in den Platten- und Musikalienkaufhäusern ein Album der Kölner Band "Erdmöbel" stehen, das ausschließlich Coverversionen enthält. Und – das vorweg – dieses Album ist unbedingt hörenswert! Es ist das vermutlich charmanteste Album des Jahres, da hier popmusikalische Leidenschaft mit einer feinen Prise Ironie versehen ist. Ausgangsmaterial, an dem sich die vier Bandmitglieder von Erdmöbel zu schaffen machen, sind verschiedenste Nummer-1-Hits der Jahre 1965 bis 2001. Hier trifft Kylie Minogue mit den Bee Gees zusammen und auf Robbie Williams folgt Nirvana.3 Schon allein die Auswahl dieser Interpreten (denen außer ihrer ehemaligen Hitparadenspitzenposition nichts gemeinsam ist) lädt zu Reflexionen über Zeitläufte und Konjunkturen der Popgeschichte ein.

Erdmoebel_2007b.jpg Insgesamt ist das Album ein erfreuliches Zuckerl für die doch arg dahinsiechende Deutschpopgemeinde. Diejenigen, die vorab schon einmal reinhören durften, sind sehr angetan. Und die Singleauskopplung "Aus meinem Kopf" besticht nicht nur durch Ohrwurmpotential, sondern auch durch ein elegant-amüsantes Video.

Der Interpretationsduktus der einzelnen Titel schließt an die letzte Platte von Erdmöbel ("Für die nicht wissen wie", 2005) an, die sich deutlich an Easy-Listening-Vorbildern orientierte. Mir persönlich scheinen erfreulicherweise auch wieder Elemente enthalten zu sein, die beispielsweise das zweite Album ("Erste Worte nach Bad mit Delfinen", 1999) auszeichneten. Allen Liedern gemein ist der klare Gesang von Markus Berges, der über dem gefälligen Sound des Quartetts zu schweben scheint. 

Einen sowohl raffinierten, wie auch ungemein charmanten Wettbewerb riefen Erdmöbel zum Start ihres Albums ins Leben. Zwecks Musikcliperstellung zu insgesamt fünf Songs der Platte "No. 1 Hits" riefen sie folgendermaßen zur Teilnahme am Videowettbewerb auf:

"…. erdmöbel präsentieren ein album voller no.1 hits. auf deutsch und in
ganz neuen erdmöbelversionen lauter songs, die jeder kennt. von kylie
minogue über die vengaboys bis zu nirvana. kopfschütteln, gänsehaut,
tanzen, lachen, weinen. das lässt keinen kalt. und darum seid jetzt ihr
dran!

zückt das fotohandy, bringt die videokamera in
stellung, fahrt das gute alte photoshop hoch – was auch immer ihr
braucht, um ein video zu gestalten, das es dem betrachter unmöglich
macht, es nicht weiterzureichen. die einzige bedingung: einer von fünf
no.1 hits aus unserem im mai erscheinenden album spielt eine rolle in
eurem werk!"

Und die ersten Resultate sind, wie man sich denken kann, zauberhaft. Bei Youtube läßt sich eine ganze Reihe an Wettbewerbsbeiträgen ansehen, als Appetithäppchen hier ein Video zu "Fahler als nur fahl" (die kongeniale Interpretation von Procol Harums "A whither shade of pale"):  

 

 

Link- und CD-Tipps:


 

 

  1. Ausnahmen bilden ausschließlich Songs lateinamerikanischer Künstler, für die die Redaktionssekretärin schwärmt und die ihre Schwärmerei dem Praktikanten gebeichtet hat. Dieser versucht durch das Ankreuzen der jeweiligen Titel seine eigenen Chancen auf ein Rendezvous zu verbessern. []
  2. Dies ist in Anbetracht der jahrelangen Berieselung mit Klangerzeugnissen aus den geheimen Hinterhoftonstudios von Bon Jovi, Britney Spears oder Shakira kaum anders zu erwarten. []
  3. Kurt Cobains "Smells like teen spirit" wird, kaum überraschend, zu "Riecht wie Teen Spirit" umgetextet. Hörenswert! Das Epigonentum wird auch hier und hier anerkannt. []

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