Experimentalsysteme » Hans-Jörg Rheinberger skizziert Kontingenzspielräume

Das Beobachten von Wissenschaft, insbesondere wenn es sich um die avanciertesten Forschungsbemühungen der Naturwissenschaften handelt, ist ein problematisches Unterfangen. Allzu leicht sieht sich etwa die Wissenschaftssoziologie, die von einem externen Standpunkt aus verstehend-analysierend zu rekonstruieren versucht, was in den Laboren geschieht, dem Vorwurf ausgesetzt, daß sie stets nur ihre eigenen (eben soziologischen) Kriterien und Sichtweisen an ihren Gegenstand herantrage. Und somit eben den tatsächlichen Vorgängen in den chemischen, physikalischen oder biologischen Laboren niemals gerecht werden könne.

Und tatsächlich fällt es oftmals schwer, diesen Verdacht zu entkräften. Denn die Forschungsarbeit in den jeweiligen Disziplinen ist nicht nur hochspezialisiert, sondern gehorcht auch einer subtilen, fachspezifischen Eigenlogik. Bestimmte Routinen des Vorgehens, des experimentellen Designs, der Messung und schließlich der Datenauswertung sind für alle Nichteingeweihten nur schwer zu entschlüsseln. Umso wertvoller, wenn man als Beobachter der (Natur-)Wissenschaft wenigstens vorübergehend selbst Angehöriger der jeweiligen Disziplin war.

Grenzgänge

Insofern ist ein Wissenschaftshistoriker wie Hans-Jörg Rheinberger ein regelrechter Glücksfall. Denn als habilitierter Molekularbiologe, weiß er, wovon er spricht. Der gebürtige Schweizer studierte zunächst Philosophie und Biologie, legte dann seinen Schwerpunkt auf die Molekularbiologie wo er nach der Promotion schließlich 1987 auch die Habilitation vorlegte. Nach rund zehnjähriger Tätigkeit als forschender Biologe wechselte er in gewissem Sinne wieder die Fronten, vertiefte seine wissenschaftshistorischen Studien und schaut seither seinen ehemaligen Kollegen über die Schulter. Seit 1997 ist er Direktor des Berliner Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte.

Seine Arbeiten stellen den spannenden Versuch dar, den untergründigen Mechanismen des wissenschaftlichen Forschens auf den Grund zu gehen. Und dabei gelingt es ihm regelmäßig, Selbstverständlichkeiten des wissenschaftlichen Arbeitsprozesses als Konstrukte zu entlarven, die lediglich Ausdruck einer disziplinären und/oder sprachlichen Konvention sind. Nicht mehr, nicht weniger.

Wie Wissenschaft das Neue in den Blick nimmt

Hauptaugenmerk der Studien von Hans-Jörg Rheinberger lag in den letzten Jahren auf den von ihm als "Experimentalsysteme" bezeichneten Versuchsanordnungen, die als Kontexte den Forschungsprozeß begleiten und prägen. Es ist ganz offensichtlich, daß Rheinberger sich weniger an Karl Popper orientiert, sondern sein Zugang viel stärker von Derrida1 oder Heidegger inspiriert ist. Auf diese Weise gelingt es ihm bspw., das Selbstmißverständnis der experimentierenden Wissenschaften zu "dekonstruieren". Die Ansicht, das Experiment – so wenigstens das offizielle Verständnis – diene ja eben entweder der Bestätigung oder der Widerlegung klar definierter Hypothesen, ist zwar konsensfähig, aber (wie Rheinberger zeigen kann) schlicht falsch. Tatsächlich verlaufe der alltägliche Forschungsprozeß deutlich ungeordneter, chaotischer, ungeplanter. Die Geradlinigkeit und Stringenz des Forschungsverlaufs werde2 allenfalls nachträglich "konstruiert".

Spannend dabei ist, daß Rheinberger aufzeigen kann, in welchem Sinne dies nicht als Defizit, sondern als notwendige Bedingung für Erkenntnisfortschritt und Entdeckungen anzusehen ist. Das Neue werde allein durch eine Experimentalanordnung ermöglicht, die Unschärfen, Nichtwissen und – wie ich hinzufügen möchte – Kontingenz3 zu integrieren in der Lage ist. In der gestrigen Ausgabe der Neuen Zürcher Zeitung (5. Mai 2007) ist ein aufschlußreicher Essay von Hans-Jörg Rheinberger abgedruckt,4 der genau diesen Sachverhalt thematisiert.

Experimentalsysteme als Kontingenzermöglichungen

Von der weit verbreiteten Annahme, daß wissenschaftliche Forschung ein nüchtern-abgeklärtes Unternehmen sei, das auf der Basis gesicherter Wissensbestände in rationaler Vorgehensweise immer neue Sachverhalte in den Blick nehme und deren Gesetzmäßigkeiten aufdecke, läßt Rheinberger wenig übrig. Sein Interesse richtet sich auf die Frage, wie im Labor das Neue entsteht. Rheinberger bemüht in seinem Essay zunächst die Metapher des Bergwerks – nicht also im hellen Licht der Aufklärung, wo alles offen vor einem liegt, sondern in der Dunkelheit und Enge operiere die Wissenschaft auf der Suche nach Erkenntnis. Die einzigen Wege dorthin zu gelangen, seien die bereits gegrabenen Tunnel und Schächte. Allein deren undurchschaubares Gewirr an (Zu-)Gängen stünde zur Verfügung. Die Hoffnung, auf eine Goldader zu stoßen, ist allen Wissenschaftlern gemein. Sicherheit, ob man die rechten Wege gegangen ist, könne man freilich niemals erlangen. Und dies hat konsequenterweise zur Folge, daß (so Rheinberger) "Forschungsergebnisse (…) nicht einfach bestellt und geliefert werden (können)." Ein Sachverhalt, den man all den Wissenschaftspolitikern, die immer noch glauben, mit ausreichendem Geldeinsatz ließen sich wissenschaftliche Erfolge "herstellen", nicht oft genug in Erinnerung rufen kann.

Wenn Wissenschaft also doch hoffen darf, neue Entdeckungen zu machen, dann (zugespitzt formuliert) nicht durch planmäßiges Vorgehen, sondern allein durch die Zufallsanordnung im und durch das Experiment.

Es ist klar, dass die Entstehung des Neuen in den modernen Wissenschaften etwas mit dem Experiment zu tun hat. Aber wie kann man zu fassen bekommen, was da im Kern des Geschehens vor sich geht, eben dort im Dunkeln, wenn man vor den Tunnels und den Schächten früherer Werke steht? Man fängt ja nie von vorne an, sondern steht am Ende eines Weges, den andere gegangen sind.

Das Experiment kennzeichnet sich, wie ich sagen möchte, erstens durch eine Selektion und zweitens durch die Eröffnung eines Kontingenzspielraumes. Zunächst wird also in der experimentellen Anordnung eine Beschränkung vorgenommen: es wird nur ein kleiner Ausschnitt der interessierenden Materie in den Blick genommen oder, anders formuliert: ins Spiel gebracht.5 Rheinberger zitiert hier den Molekularbiologen und Nobelpeisträger François Jacob vom Institut Pasteur in Paris, der zu Protokoll gibt:

"Um ein Problem zu analysieren, ist der Biologe gezwungen, seine Aufmerksamkeit auf einen Ausschnitt der Realität zu richten, auf ein Stück Wirklichkeit, das er willkürlich aussondert, um gewisse Parameter dieser Wirklichkeit zu definieren. In der Biologie beginnt mithin jede Untersuchung mit der Wahl eines ‹Systems›. Von dieser Wahl hängt der Spielraum ab, in dem sich der Experimentierende bewegen kann, der Charakter der Fragen, die er stellen kann, und sehr oft sogar auch die Art der Antworten, die er geben kann."

Neben dieser Beschränkung, eröffnet das Experiment allerdings gleichzeitig einen Raum, in dem (so jedenfalls die Hoffnung) sich aufschlußreiche Phänomene ereignen, die sich durch die Meßapparate abbilden lassen. Wie Rheinberger illustriert, bewegt sich das Experiment somit stets im Grenzbereich zwischen Wissen und Nichtwissen und genau die Anordnung, die die Unschärfen dieser Randbereiche produktiv miteinander konfrontieren kann, zeitigt (möglicherweise) Erfolg. Daß dieser nicht berechenbar ist, wird aus dem Gesagten wohl deutlich. Das Kalkül kann sich folglich niemals auf das wissenschaftlich stringente Vorgehen beziehen,6 sondern erschöpft sich darin, auf trickreiche Art und Weise das Experimentalsystem als Zufalls-Spielplatz zu arrangieren.

Es kommt also alles darauf an, dass man nicht nur den abschliessenden,
sondern auch den aufschliessenden Charakter solcher Beschränkungen
versteht. (…) Experimentalsysteme verengen den Blick, sie erweitern ihn aber im gleichen Atemzug. Diese Erweiterung, dieser aufschliessende Charakter des Experiments kann auf zwei Weisen betrachtet werden. Experimentalsysteme sind die Orte, an denen sich in den empirischen Wissenschaften das Neue ereignet. Und das meine ich jetzt ganz konkret: Das Neue ereignet sich weniger in den Köpfen der Wissenschafter – wo es allerdings letztlich ankommen muss – als vielmehr im Experimentalsystem selbst. (…)

Experimentalsysteme sind also äusserst trickreiche Anlagen; man muss sie als Orte der Emergenz ansehen, als Strukturen, die wir uns ausgedacht haben, um Nicht-Ausdenkbares einzufangen. Sie sind wie Spinnennetze. Es muss sich in ihnen etwas verfangen können, von dem man nicht genau weiss, was es ist, und auch nicht genau, wann es kommt. Es sind Vorkehrungen zur Erzeugung von unvorwegnehmbaren Ereignissen.  

Was sind experimentale Anordnungen also anderes als Einrichtungen, um Kontingenz zu ermöglichen? Und aus dieser Feststellung ließe sich ohne weiteres schlußfolgern, daß Wissenschaft genau dann erfolgreich operiert, wenn sie Kontingenz7 zu nutzen versteht. Man könnte sogar pointiert sagen, daß Wissenschaft ihren Erkenntniszuwachs niemals planend kontrolliert, sondern zumeist das findet, wonach sie nicht gesucht hat. Hans-Jörg Rheinberger resümiert auf folgende Weise:

Man kann das Forschen also als eine Suchbewegung charakterisieren, die sich auf der Grenze zwischen dem Wissen und dem Nichtwissen bewegt. Das Grundproblem besteht darin, dass man nicht genau weiss, was man nicht weiss. Damit ist das Wesen der Forschung kurz, aber bündig ausgesprochen. Es geht letztlich um das Gewinnen von neuen Erkenntnissen; und was wirklich neu ist, ist definitionsgemäss nicht vorhersehbar, es kann also auch nur begrenzt herbeigeführt werden. Was wirklich neu ist, muss sich einstellen, und man muss Bedingungen dafür schaffen, dass es sich einstellen kann. Mit dem Experiment schafft sich der Forscher eine empirische Struktur, eine Umgebung, die es erlaubt, in diesem Zustand des Nichtwissens um das Nichtwissen handlungsfähig zu werden. (…) Das Experiment ist, wenn man so will, eine Suchmaschine, aber von merkwürdiger Struktur: Sie erzeugt Dinge, von denen man immer nur nachträglich sagen kann, dass man sie hätte gesucht haben müssen.

Es lässt sich also mit einiger Plausibilität behaupten, daß der Kern des wissenschaftlichhen Experimentierens in der Entfaltung von Kontingenzspielräumen besteht. Umso verwunderlicher, daß genau diese Kontingenz den meisten Wissenschaftlern zumeist als Ärgernis erscheint.8


 

Link- und Literaturtipps:

  1. Als Philosophiestudent übersetzte Hans-Jörg Rheinberger zusammen mit Hanns Zischler Derridas "Grammatologie" ins Deutsche. []
  2. Was eben einer tief verankerten Fortschrittsgläubigkeit und Rationalitätsunterstellung der forschenden Akteure zugerechnet werden muß. []
  3. Kontingenz bezeichnet (vereinfacht gesagt) alle Sachverhalte, die zwar möglich sind, aber deren Eintreten nicht notwendig ist. Verkürzt könnte man Kontingenz auch als Zufall bezeichnen. Besser und treffender ist vermutlich, jedenfalls im von mir angestrebten Bedeutungskontext, der Terminus ‚Unverfügbarkeit‘. Kontingenz ist ein  durchaus schillernder Begriff mit unterschiedlichen Konnotationen in Philosophie und Soziologie; ich selbst beziehe mich mit dem Kontingenzbegriff (in der Tradition von Aristoteles bis hin zu Luhmann) sowohl auf Gegebenes, als auch auf Erwartetes im Horizont möglicher Abwandlungen. Alle Ereignisse, die nicht ausgeschlossen werden können, wären demnach kontingent. []
  4. Grundlage des Artikels ist ein Vortrag, den H.-J. Rheinberger anläßlich der Verleihung des "Cogito"-Preises im Oktober 2006 gehalten hatte. []
  5. Ob es das "richtige" Material ist, die "richtige" Anordnung, lässt sich im Vorfeld freilich nicht sagen, allenfalls intuitiv erahnen. []
  6. wird als solches höchstens a posteriori in Anschlag gebracht []
  7. Unter gewissen produktiven Rahmensetzungen, die sie im Versuchsdesign wie schon im gesamten Forschungsprozeß integriert. []
  8. Die verschiedenen Versuche, die Kontingenzen, die durch das jeweilige wissenschaftliche Handeln freigesetzt werden, zu limitieren, nehme ich übrigens innerhalb meiner Doktorarbeit am Beispiel der humanen Gentechnologie in den Blick. Weitere Informationen dazu hier. []

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