Der universale Raum der Politik » Weshalb die Rede von der Politikverdrossenheit in die Irre führt


Es gehört genauso zum festen Programm von Wahlabenden wie das Auspacken der Geschenke zum Weihnachtsabend. Früher oder später fällt der Blick auf die erneut gesunkene Wahlbeteiligung und als sei es ein konditionierter Reflex, wird umgehend die These der Politikverdrossenheit ins Gespräch gebracht. Als Indikator für diese seit Jahrzehnten diskutierte Verdrossenheit der Bürger im Hinblick auf die Politik dient – wie ganz offensichtlich ist – ausschließlich die zurückgehende Anzahl der Wahlberechtigten, die den Weg zur Wahlurne finden. Ob dieser Sachverhalt freilich überhaupt als Anhaltspunkt für ein wachsendes Desinteresse der Bevölkerung an politischen Themen anzusehen und was mit dem Slogan „Politikverdrossenheit“ gemeint ist, wird leider selten oder, seien wir ehrlich, überhaupt nicht debattiert.

Blogkarneval01.jpgWer aber mit ernster Miene dieses Wort zuerst in die Runde wirft1, erntet mit allerschönster Zuverlässigkeit eifriges Kopfnicken und zustimmendes Gemurmel. Das sei eine Aufgabe, der sich alle Parteien stellen müssten, ertönt es dann sofort aus einer anderen Ecke, was wiederum gewissenhaft-zustimmende Resonanz erfährt. Und schließlich wird dieses ritualisierte Spiel noch durch die Äußerung ergänzt, daß man die Sorgen der Bürger ernst zu nehmen habe und das Feld nicht den extremistischen Parteien an den Rändern des politischen Spektrums überlassen dürfe. Erneut, man ahnt es, gefälliges Gemurmel und energisches Kopfnicken.

Die Unschärfe der Terminologie

Man könnte erheitert sein, wie von so manch anderen Ritualen des Wahlabends, wenn nicht schon die Begrifflichkeit der „Politikverdrossenheit“ so schief im Raum hängen würde. Von der fraglichen Stichhaltigkeit der Diagnose und den – mit Ausnahme der Wahlbeteiligung siehe oben – leider niemals genannten Indizien ganz zu schweigen. Denn welches Politikverständnis ist denn hier überhaupt gemeint? Und wie äußert sich denn bitteschön der allenthalben erwähnte Verdruß?

Konstatiert man, daß es einige Bevölkerungsgruppen gibt, die sich durch eine latente Unzufriedenheit mit bestimmten politischen Sachverhalten und Strukturen auszeichnen, so wäre umso mehr eine begriffliche Differenzierung zu wünschen. Denn wäre es hier nicht dringend angeraten zu diskutieren, was konkret der Gegenstand und Anlaß des Verdrusses ist? Möglicherweise würde man, wenn man bereit wäre der Frage ernsthaft nachzuspüren, feststellen, daß das im Raum stehende Phänomen „Politikverdrossenheit“ viel angemessener als „Politikerverdrossenheit“ und – damit zusammenhängend, aber mit unterschiedlichem Akzent – als „Parteiverdrossenheit“ zu beschreiben wäre? Davon nochmals zu unterscheiden wäre eine grundsätzliche Enttäuschung im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit nationalstaatlicher Poltik. Und schließlich ließe sich – wenn man eben mit genauerem Vokabular in die Diskussion einstiege – auch erkennen, daß von Politikverdrossenheit ernsthaft kaum die Rede sein kann. Aber der Reihe nach.

Das Phänomen genau bezeichnen: Politikerverdrossenheit

Wie einführend dargestellt, wird die Diagnose „Politikverdrossenheit“ zumeist an genau einem Symptom festgemacht: der abnehmenden Wahlbeteiligung. Diese steht – zumal, wenn es um Kommunal- oder Europawahlen geht – außer Frage. Allerdings gilt es hier zu überlegen, was oder genauer: wer hier eigentlich zur Wahl steht? Es sind, ja genau, Politiker, also Personen, die ein Amt in den jeweiligen Parlamenten anstreben und/oder die jeweiligen Parteien, deren Aufgabe zufälligerweise auch die Rekrutierung des politischen Personals ist.

Der Entschluß, sich nicht an einer Wahl zu beteiligen, ist folglich zunächst der Ausdruck einer Skepsis bzw. Ablehnung, des zur Verfügung stehenden politischen Establishments. Nicht mehr, nicht weniger.2 Oder anders: derjenige, der am Wahlsonntag lieber zuhause bleibt, bringt damit unter anderem zum Ausdruck, daß er von den Politikern – also denjenigen, die ihm mit Zahnpastalächeln von den Plakaten entgegengrinsen – nichts hält. Das mag in manchen Fällen tatsächlich schon allein dadurch motiviert sein, daß man die Formen der Wahlkampfführung für mehr und mehr penetrant hält. Die Art der Anbiederung, die immergleiche und kaum unterscheidbare Aufmachung der Flugblätter und Wahlbroschüren, sind hier ein Faktor unter vielen. Wichtiger vermutlich ist die Art und Weise, wie sich die führenden Repräsentanten der politischen Führungsriege in den öffentlichen Debatten zeigen und darstellen. Das Urteil der Wahlbürger basiert schließlich in wesentlichem Umfang auf der Wahrnehmung der Selbstdarstellung der Kandidaten. Und hier zeigt sich, daß die Spitzenpolitiker sich immer ähnlicher und somit ununterscheidbarer werden.

Die Ununterscheidbarkeit weichgespülter Politdarsteller

Es ist der Fluch, der mit den PR-Beratern und Image-Trainern über die politische Klasse gekommen ist: während die Generation der Politiker, die sich in den 60er und 70er Jahren die großen Auseinandersetzungen lieferten, noch ein scharfes Profil hatte, erscheint die aktuelle Elite wie weichgespült. Wie kantig, wie im Wortsinne: originell, waren doch Wehner, Strauß, Brandt und Co. Wie brillant verstand der kettenrauchende Helmut Schmidt, nicht umsonst Schmidt Schnauze genannt, die Argumente der Gegner zu parieren. Wer erinnert sich nicht an den Architekten der Ostpolitik Egon Bahr oder den überzeugten Pazifisten Erhard Eppler, der einmal so etwas wie das soziale Gewissen der SPD war?

Heute freilich dominieren Herren wie Christian Wulff oder Ole von Beust. Es sind lautere Politiker, die sich aber vor allem dadurch auszeichnen, niemandem weh zu tun. Politik, so also die erste These, müßte unterscheidbar sein und dazu Profil haben. Wo man stets nur darum bemüht ist, keine Wähler zu verprellen, braucht man sich kaum zu wundern, wenn man immer weiter im Wählerzuspruch absinkt. Die politischen Schwergewichte früherer Tage wußten demgegenüber zu polarisieren, und ja gewiß, es gab sicher Zehntausende, die Personen wie Strauß oder Wehner abscheulich fanden, aber genau die fanden den Weg zur Urne, um just die andere Partei zu wählen und um den verabscheuten Kandidaten zu verhindern.

Warum Frau Christiansen und Frau Illner der Politik einen Bärendienst erweisen

Die zweite bedauerliche Entwicklung bezieht sich auf die Debattenkultur, die sich mehr und mehr in die Fernsehtalkshows verlagert hat. Jeder Kenner der Szene weiß, daß es hier nicht um Sach- und Problemlösungen geht, sondern daß hier der Schlagabtausch und die Selbstdarstellung der Akteure im Vordergrund steht. Hinter den Kulissen stehen schließlich die Berater und messen die Redezeit mit der Stoppuhr und achten sorgsam darauf, daß die Föhnfrisur richtig sitzt. Es geht also – wie alle Beteiligten wissen – nicht (!) um die Verhandlung von politischen Problemen, die findet anderswo statt. Dem interessierten Zuschauer freilich wird suggeriert, vor seinen Augen finde eine problemorientierte Debatte statt. Und was muß er erleben? Gleichviel, ob die jeweiligen Argumente plausiblel sind oder nicht: auf den politischen Gegner wird argumentativ eingehauen, es wird polemisiert und alle sonnen sich im Lichte der Gewißheit, es schon immer gewußt zu haben und insistieren darauf, daß die anderen es schon immer falsch gemacht haben.

Im Ergebnis wendet sich der Zuschauer entsetzt ab: denn einerseits sind die Akteure kaum unterscheidbar, andererseits nimmt er zur Kenntnis, daß es mit der Problemlösungsfähigkeit nicht allzu weit her ist. Daß in den Fraktionen, den Ministerien, den Verhandlungsausschüssen und an all den anderen Orten, wo keine Kameras positioniert sind, dennoch sachkundig und engagiert, meist sogar effektiv (zusammen-)gearbeitet wird, nimmt der Fernsehzuschauer kaum zur Kenntnis. Wie sollte er es auch, wenn Frau Christiansen und Frau Illner ständig die Streithähne aufeinander loslassen?

Die eingeschränkte Handlungsfähigkeit nationalstaatlicher Politik

Der dritte und letzte Punkt: der gesellschaftlich-strukturelle Prozeß, der unter dem Stichwort „Globalisierung“ verhandelt wird, hat die Grundlagen jedweder Politik verändert. Hier ist nicht der Platz, um darauf näher einzugehen. Was aber außer Zweifel steht: die exponentielle Zunahme der kommunikativen, wirtschaftlichen, ökologischen und letztlich: politischen Verflechtungen hat zu einer wahnwitzigen Erosion des nationalstaatlichen Handlungspotentials geführt. Der Bereich, der noch vor 20 Jahren durch nationale Gesetzgebungen geregelt werden konnte, ist auf einen Bruchteil seines früheren Ausmaßes geschrumpft. Supranationale Regime und die Delegation von Souveränität und Kompetenzen an die EU tun ihr weiteres. Im Ergebnis hat sich der Handlungsspielraum der nationalen Regierungen minimiert. Egal ob die Umweltgesetzgebung oder der gesamte Komplex der Finanz- und Steuerpolitik. Die Hände der Bundesregierung sind gebunden, handeln ist jeweils nur im transnationalen kooperativen Verbund denkbar und möglich.

Kein Wunder also, daß sich nicht wenige der Wahlbürger lieber einen schönen Familienausflug gönnen, anstatt ins muffige Wahllokal zu eilen, wo man ohnehin nur die Personen wählen kann, die dann – im Vergleich zu früher, nicht absolut! – relativ wenig Handlungskompetenz haben.

Zusammenfassend: das Fehlen charakteristischer „Köpfe“ in der Politik, das Fehlen von Mut, auch unbequeme Positionen durchzusetzen und die Angst der Parteien und Politiker Wähler zu verprellen, führt zusammengenommen dazu, daß eine gewisse Frustration Raum greift, die sich nach meinem Dafürhalten als „(Partei-)Politikerverdrossenheit“ beschreiben ließe. Der zuletzt genannte Punkt fokussiert auf eine realistische Einschätzung der Veränderungen im Zuge der Transnationalisierungsprozesse, die die nationalen Regierungen zunehmend vor Handlungsprobleme stellt. Die Wahlenthaltung aus diesem Grund ist aber auch längst keine Politikverdrossenheit, sondern eine individuelle Skepsis, die in der Verweigerung der Stimmabgabe zum Ausdruck kommt.

Politik ist mehr: wo und wie wir alle immer schon politisch agieren

Ich hoffe, daß die Erläuterungen etwas plausibel machen konnten, daß der Terminus „Politikverdrossenheit“ an der Sache vorbei geht. Um diese Tatsache mit einem weiteren Argument zu untermauern, sei mir noch ein letzter Hinweis auf die inhaltliche Dimension des Politischen erlaubt.

Der üblichen – und wie gezeigt unscharfen, deplatzierten – Rede von der Politikverdrossenheit liegt ein unterkomplexes bzw. unzeitgemäßes Politikverständnis zugrunde. Denn Politik bezeichnet längst nicht nur die Prozesse, die institutionalisiert in Parlamenten, Regierungen und Ministerien ablaufen. Politik ist schon immer mehr. Der öffentliche Raum ist die eigentliche und ursprüngliche Sphäre des Politischen. Das galt in früheren Zeiten und gilt seit den 80er Jahren erst Recht.

Denn waren und sind die Protestbewegungen der 80er Jahre, die sich an Aufrüstung, Umweltzerstörung und der Frage der Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern entzündeten, nicht originär politisch? Wer hat Zweifel daran, daß eine Sitzblockade, eine Demonstration nicht ein dezidiert politischer Akt ist? Wer führt allen Ernstes die Rede von Politikverdrossenheit im Munde, wenn man sich die breite Wahrnehmung des G8-Gipfels und der Proteste vor Augen führt?

Aber es wäre auch falsch nur diese eindeutig sichtbaren Stellungnahmen des außerparlamentarischen Raums als „politisch“ zu begreifen; Politik ist deutlich mehr. Jeder Kaufakt, jede Diskussion im Freundeskreis ist politisch. Die Entscheidung, ob wir im Biomarkt oder beim Discounter kaufen ist politisch. Die Entscheidung für ein spritsparendes oder eben ein prestigeträchtiges Auto ebenso. Wer mit dem Rad fährt handelt immer auch politisch und wer erinnert sich noch an den Boykott der Shell-Tankstellen im Zusammenhang mit der geplanten Versenkung der Ölbohrplattform „Brent Spar“? Genau: hier führte individuelles Handeln zu einer politisch wirkmächtigen Entscheidung. Der Druck auf den Ölkonzern wurde so groß, daß er seine  Pläne änderte.

Aber nicht nur im Kollektiv wird Politik wirksam. Auch das Private ist längst politisch geworden. Der eigene Lebensentwurf, die Frage nach Ausbildungsplätzen, Karriere, Familienplanung, Kinderbetreuung und Alterssicherung sind heute mehr denn je ein Thema, das in den Familien, den Freundeskreisen, in Universitäten und an den Stammtischen der Republik diskutiert wird. Gehen wir doch raus auf die Straße und fragen beliebige Passanten, welche Meinung sie zu den Plänen von Ursula von der Leyen im Bezug auf die Vorschulbetreuung und Krippenplätze haben. Egal, ob wir Ablehnung oder befürwortende Stimmen finden werden: wir werden kaum Gleichgültigkeit vorfinden. Ist ein besseres Indiz vorstellbar, gibt es ein besseres Argument dafür, daß die These von der angeblichen „Politikverdrossenheit“ an der Realität vorbeigeht?

 


Hinweis: Hier handelt es sich um einen Beitrag im Rahmen des „Politischen Blogkarnevals„. Einen anderen Artikel der Wissenswerkstatt dazu, eher auf die demokratietheoretischen Konzepte und deren Kritik fokussierend, findet man hier.

tags: Subpolitik, Terminologie, Krisenerscheinung, Politikerverdrossenheit, Profillosigkeit, Wahlverhalten, Protest, Individualisierung

Empfehlenswerte Literatur:

 

 

  1. am wirkungsvollsten geschieht dies natürlich in der „Elefantenrunde“ der Parteifürsten []
  2. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Die Ablehnung des zur Wahl stehenden Personals ist nur ein Motiv/Beweggrund unter vielen, die für das Phänomen Wahlenthaltung verantwortlich zu machen sind. Zweifel, ob die relevanten Entscheidungen überhaupt durch die Politik getroffen werden und deren Handlungsspielräume nicht längst stark minimiert sind, wäre – wie ich an anderer Stelle andeute – ein weiteres Motiv. Darüberhinaus gibt es selbstverständlich weitere Faktoren; darum geht es im hier interessierenden Zusammenhang aber gar nicht. []

8 Gedanken zu „Der universale Raum der Politik » Weshalb die Rede von der Politikverdrossenheit in die Irre führt“

  1. „Wie einführend dargestellt, wird die Diagnose „Politikverdrossenheit“ zumeist an genau einem Symptom festgemacht: der abnehmenden Wahlbeteiligung. Diese steht – zumal, wenn es um Kommunal- oder Europawahlen geht – außer Frage.“

    Tut mir leid, aber als Politikwissenschaftler fällt mir zu diesem naiven Text nichts sinnvolles mehr ein. Das Thema der Wahlenthaltung ist dermaßen vielfältig in der Begründung, auch über Jahrzehnte unterschiedlich theoretisch begründet und empirisch untersucht, dass eine schlichte Reduzierung auf Politikverdrossenheit eher von Unkenntnis der Literatur zeugt. Wahlenthaltung kann ein bewusster Akt mangels vermeintlicher Alternativen sein. Sie kann aber auch dadurch entstehen, dass man mit dem System schlicht zufrieden ist und deswegen keinen Anreiz zur Veränderung hat und so weiter und so fort. Es gibt nicht die eine Erklärung zur Wahlenthaltung.

    Ich habe auch keine Lust, hierzu eine lange Replik zu verfassen, die doch keinen interessiert. Allerdings gebe ich mal ein paar Hinweise zur Literatur, die einen Einstieg in die Theorie der Wahlenthaltung ermöglicht und diesem komplexen Thema eher gerecht wird:

    – zum mikrosoziologischen Ansatz der Columbia School:

    Lazarsfeld, Paul F./Berelson, Bernhard R./Gaudet, Hazel [Hrsg.] (1969): Wahlen und Wähler. Soziologie des Wahlverhaltens. Neuwied, Berlin

    Müller, Wolfgang (1999): Sozialstrukturelle Cleavages bei Bundestagswahlen in Theorie und Empirie. Persistenz, Realignment oder Dealignment? Frankfurt/Main: Peter Lang.

    Roth, Dieter (1998): Empirische Wahlforschung. Ursprung, Theorien, Instrumente und Methoden. Opladen: Leske + Budrich.

    – die makrosoziologische Theorie der Cleavages

    Mielke, Gerd (2001): Gesellschaftliche Konflikte und ihre Repräsentation im deutschen Parteiensystem. Anmerkungen zum Cleavage-Modell von Lipset und Rokkan. In: Ulrich Eith, Gerd Mielke [Hrsg.]: Gesellschaftliche Konflikte und Parteiensysteme. Länder- und Regionalstudien. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag

    – Das Ann Arbor Modell der Michigan School

    Falter, Jürgen W. (1977): Einmal mehr: Lässt sich das Konzept der Parteiidentifikation auf deutsche Verhältnisse übertragen? In: Politische Vierteljahresschrift, Heft 2/3

    Gabriel, Oscar W. (2001): Parteiidentifikation, Kandidaten und politische Sachfragen als Bestimmungsfaktoren des Parteienwettbewerbs. In: Oscar W. Gabriel, Oskar Niedermayer, Richard Stöss [Hrsg.]: Parteiendemokratie in Deutschland. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung

    – Rational Choice Ansätze

    Behnke, Joachim (2001): Parteineigung als Fakt oder Parteineigung durch Fakten. Der Einfluss von Issues auf das Wahlverhalten. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Heft 3/2001

    Kühnel, Steffen/Fuchs, Dieter (2000): Instrumentelles oder expressives Wählen? Zur Bedeutung des Rational-Choice-Ansatzes in der Empirischen Wahlforschung. In: Klein/Jagodzinski/Mochmann/Ohr (Hrsg.): 50 Jahre Empirische Wahlforschung in Deutschland. Wiesbaden, Westdeutscher Verlag

    Kühnel, Steffen/Fuchs, Dieter (1998): Nichtwählen als rationales Handeln: Anmerkungen zum Nutzen des Rational-Choice-Ansatzes in der empirischen Wahlforschung II. In: Max Kaase, Hans-Dieter Klingemann (Hrsg.): Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl 1994. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag

    – Verschiedenes:

    Müller, Walter (1997): Sozialstruktur und Wahlverhalten. Eine Widerrede gegen die Individualisierungsthese. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 49.

    Schultze, Rainer-Olaf (2000): Wählerverhalten bei Bundestagswahlen: Bekannte Muster mit neuen Akzenten, in: Politische Bildung: Wahlen in Deutschland. Europa – Bund – Länder – Kommunen., Wochen Schau Verlag

    Und noch sehr viel mehr Literatur.

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  2. Werter „Pseudonym“,

    ich muß zugestehen, daß ich – der Autor des „naiven Texts“ – eine inhaltliche Stellungnahme von Dir für sinnvoller erachtet hätte. Schließlich ließe sich über meine Kernthese, daß der Begriff „Politikverdrossenheit“ hinsichtlich bestimmter Aspekte unscharf ist, doch argumentativ diskutieren, oder nicht ?

    Leider kann ich nur feststellen, daß Du offenbar meinen Text und dessen Intention nicht richtig verstanden hast oder verstehen wolltest: denn mir kam es nicht darauf an, eine umfassende Darstellung der Gründe für die abnehmende Wahlbeteiligung vorzunehmen. Über die Vielfalt der dafür zugrunde liegenden Motive bin ich mir durchaus bewußt. Ich habe lediglich 2-3 Faktoren genannt, die bzgl. des Lamentos über die Politikverdrossenheit eine Rolle spielen.

    Nochmal: eine „Theorie der Wahlenthaltung“ (wie Du schreibst) ist und war von mir niemals beabsichtigt. Ich habe lediglich darauf hingewiesen, daß durch Politiker in den Medien das Phänomen „Politikverdrossenheit“ leider stets nur auf das sichtbare „Symptom“ Wahlenthaltung zurückgeführt wird.

    Ansonsten gestehe ich gerne zu, daß mein Plädoyer für einen erweiterten Politikbegriff, wie ich es in den letzten Absätzen unternehme, meinetwegen auch „naiv“ genannt werden darf. (Wobei ich mich allerdings – siehe Literaturtipp Ulrich Beck – in bester Gesellschaft befinde.)

    Allerdings kein einziges Argument für eine andere Sichtweise zu liefern und stattdessen mit einer ellenlangen Literaturliste zu kontern, die aber auf eine andere Frage (Wahlbeteiligung statt Politikverdrossenheit!) abhebt, finde ich doch ein wenig befremdlich. Genauso, wie ich es irritierend finde, daß Du weder Name noch Mailadresse hinterläßt.

    Ich wußte nicht, daß das neuerdings der politikwissenschaftliche Stil ist. Ich bin – was ich für Leser wie Dich vielleicht hätte hinzufügen sollen – nämlich ursprünglich selbst einer: Politikwissenschaftler nämlich.

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  3. Eines vorweg: Meinen Namen gebe ich nicht mit an, weil Google jeden Lebenslauf damit gläsern macht und die EMail-Adresse, die ich eingetragen habe, funktioniert wunderbar. Nun gut. Dann werde ich Deinen Text doch noch mal inhaltlich kommentieren.

    „Der Entschluß, sich nicht an einer Wahl zu beteiligen, ist folglich zunächst der Ausdruck einer Skepsis bzw. Ablehnung, des zur Verfügung stehenden politischen Establishments. Nicht mehr, nicht weniger.2 Oder anders: derjenige, der am Wahlsonntag lieber zuhause bleibt, bringt damit unter anderem zum Ausdruck, daß er von den Politikern – also denjenigen, die ihm mit Zahnpastalächeln von den Plakaten entgegengrinsen – nichts hält.“

    In der Fußnote zu diesem Absatz relativierst Du Deine Aussage dahingehend, dass es noch andere Gründe gebe. Allerdings ist der Kern Deiner These unverändert: Ein informierter Wähler treffe eine informierte Entscheidung, die durch Wahlteilnahme oder -enthaltung zum Ausdruck gebracht werde. Damit implizierst Du im Sinne von Rational Choice, dass die Wahlbevölkerung sich die Kosten der Informationsbeschaffung aufbürdet, eine Entscheidung trifft und dies am Wahltag zum Ausdruck bringt. Das ist insofern zu kurz gegriffen, als dass ein nicht erheblicher Teil der Nichtwähler schlicht keinen Zugang zum politischen Prozess im Sinne von Informationsbeschaffung findet. Sei es durch erlerntes Desinteresse mangels Vorbilder im Elternhaus oder durch eine generelle Bildungsferne, in welcher der sehr komplexe politische Prozess in einer Konsensdemokratie (und nichts anderes ist die Bundesrepublik) schlicht nicht verständlich ist. Eine Teilmenge befindet sich mit Sicherheit im Prekariat bzw. im Bereich „untere Mittelschicht / Unterschicht“ in den Sinus Milieustudien.

    „Das Urteil der Wahlbürger basiert schließlich in wesentlichem Umfang auf der Wahrnehmung der Selbstdarstellung der Kandidaten.“

    Sicher ist die Wahrnehmung der Kandidaten ein wichtiger Aspekt, auf den ich gleich noch zu sprechen komme. Du unterschlägst aber auch hier, dass die Wahlteilnahme von mehreren Facetten geprägt wird. Durch die Formulierung „im wesentlichen“ unterstellst Du sogar, dass dies im Grunde der stärkste Einflussfaktor sei. Damit wird aber unterschlagen, dass Wahlentscheidungen sich auch an sozialen Konflikten, den so genannten Cleavages, festmachen lassen, in denen Konflikte etwa zwischen religiös und nicht-religiös, Arbeit vs. Kapital und anderen Dimensionen manifestiert sind, die vereinfacht in Links-Rechts Schemata abgebildet werden. Die Darstellung der Persönlichkeit ist ein Faktor, der vor allem deswegen an Bedeutung zu gewinnen scheint, weil feste Parteibindungen nachlassen. Mit zunehmender Bereitschaft zur Wechselwahl, müssen die Parteien umso stärker um diese Wähler kämpfen.

    „Es ist der Fluch, der mit den PR-Beratern und Image-Trainern über die politische Klasse gekommen ist: während die Generation der Politiker, die sich in den 60er und 70er Jahren die großen Auseinandersetzungen lieferten, noch ein scharfes Profil hatte, erscheint die aktuelle Elite wie weichgespült.“

    Weiter führst Du die üblichen Beispiele von Schmidt, Wehner und anderen als vermeintlich positive Figuren der Politdebatte an und bemängelst Langeweiler wie Koch oder von Beust. Auch diese Argumentation halte ich für viel zu kurz gegriffen. Helmut Schmidt, Herbert Wehner, Konrad Adenauer, Ludwig Erhard usw – all das sind Politiker, die völlig anders sozialisiert wurden und ganz andere Erfahrungen verkörpern. All die Spitzenpolitiker der 1950’ger und 1960’ger sind geprägt durch die Weimarer Republik und deren Untergang. Sie haben erlebt, wie ein System am Parteienstreit zerbrach, weil es keine geschlossene Linie gegen die Nazis bilden konnte und schließlich zerbrach. Dass Politiker wie Adenauer, der zudem noch im Kaiserreich groß wurde, keinen konsensualen Stil pflegte, weil sie ihn schlicht nicht gelernt haben, dürfte auf der Hand liegen. Die Generation um Schmidt und Wehner war nun ein anderes Beispiel. Allesamt haben sie ihre Jugend im dritten Reich verloren und sammelten ihre Erfahrung als Soldaten im Krieg. Sehr schön beschreibt Jürgen Leinemann diese Generation in seinem Buch „Höhenrausch“. Es dürfte auf der Hand liegen, dass Schmidt, Wehner und andere führende Köpfe der 1970’ger in ihrem Stil vor allem durch ihre Lebenserfahrung geprägt waren. Eine Erfahrung, die durch eine verlorene Jugend und Krieg gekennzeichnet war. Koch und von Beust hingegen sind Nachkriegskinder, die in dieser Bundesrepublik groß wurden. Eine Bundesrepublik, in der ein Verhältniswahlrecht die Suche zum Koalitionskonsens als systemimmanentes Merkmal aufweist! Wie sollten sie sich in einer Demokratie anders als durch die Suche zur Mehrheit denn sozialisieren? Wer der heutigen Politikergeneration den Vorwurf der Blutleere macht, verkennt, dass dies auch unserem Wahlsystem und dem föderalen Aufbau geschuldet ist. Daraus aber eine Heroisierung der 1970’ger und deren Personal zu machen, ist äußerst merkwürdig.

    „Daß in den Fraktionen, den Ministerien, den Verhandlungsausschüssen und an all den anderen Orten, wo keine Kameras positioniert sind, dennoch sachkundig und engagiert, meist sogar effektiv (zusammen-)gearbeitet wird, nimmt der Fernsehzuschauer kaum zur Kenntnis. Wie sollte er es auch, wenn Frau Christiansen und Frau Illner ständig die Streithähne aufeinander loslassen?“

    Nun, zum einen sehe ich auch in dieser Argumentation ein idealisiertes Bild des Wählers, das so in der Wirklichkeit nicht existiert und zum anderen impliziert es, dass die Medien eine Entwicklung vorgeben oder gar Gesellschaften steuern können. Dazu möchte ich einiges anmerken. Weit über 90% der Wähler haben deswegen kein Interesse an ausführlicher Information, weil sie schlicht mit ihrer Zeit besseres anzufangen wissen. In der Theorie des Rational Choice ausgedrückt, sind die Kosten der Informationsbeschaffung (Zeitungen kaufen und lesen, Debatten verfolgen, sich informieren etc.) im Verhältnis zum Ergebnis dermaßen hoch, dass die Informationskosten nicht aufgewendet werden. Daher gibt es in der Regel auch nur einen ganz kleinen Prozentsatz an Wählern, die sich ausführlich informieren. Das mangelnde Interesse wird auch deutlich, wenn man sich anschaut wie die Medien aufgenommen werden, die seriöse und sehr ausführliche Informationen bieten. Welche Einschaltquoten haben denn Phoenix, DLF, NDRInfo (und andere regionale Info Sender)? Wieviele Leser haben denn „die Zeit“, SPIEGEL, CICERO oder andere Medien? Sich hier auf Christiansen und Co. zu fokussieren, ist sehr kurz gegriffen.

    „Kein Wunder also, daß sich nicht wenige der Wahlbürger lieber einen schönen Familienausflug gönnen, anstatt ins muffige Wahllokal zu eilen, wo man ohnehin nur die Personen wählen kann, die dann – im Vergleich zu früher, nicht absolut! – relativ wenig Handlungskompetenz haben.“

    Und wieder das falsche Bild vom informierten Wähler, der eine bewusste Entscheidung trifft. Ich formuliere hier eine andere These: Die zunehmende Komplexität des politisches Prozesses überfordert nicht wenige und lässt sie deswegen abkehren. Die Behauptung der abnehmenden Handlungskompetenz ist ebenfalls zu belegen. Es stimmt, dass viele Entscheidungen auf europäischer Ebene getroffen werden. Es ist auch richtig, dass in einer globalisierten Welt nationale Alleingänge nicht zielführend sind. Aber: Wo ist der wesentliche Unterschied zu früher und wann war dieses „früher“ überhaupt? Die Ölkrise der 1970’ger hat schon deutlich gemacht, dass wir nicht alleine auf der Welt sind und im internationalen Wettbwerb agieren müssen und Entscheidungen nicht nur national getroffen werden können. Der Zusammenbruch von Bretton Woods hat das ebenfalls klar gemacht. Alleine das Wechselspiel der Währungskurse hat bis zur Einführung des Euros nationale Spielräume stark begrenzt. Eines zum Schluss zu diesem Argument: Der Bürger der Europäischen Union kann jede Entscheidungsebene durch Wahlen besetzen: Die kommunale Ebene (Subsidarität!), die Länderebene (in Deutschland), die nationale Regierung und das Europäische Parlament. Dieses Zusammenspiel ist ohne Frage sehr komplex aber einen demokratiefreien Entscheidungsraum gibt es zumindest nicht in der EU.

    Darüber hinaus sehe ich keine Verbindung Deiner genannten Argumente zur Schlussfolgerung, dass wir alle politisch agieren und dies auch noch mehr als früher. Das ist – mit Verlaub – eine Binsenweisheit. Wenn Du das Thema Politikverdrossenheit als Ablehung des politischen Systems und seiner Akteure beschreiben willst, solltest Du Phänomene wie Wahlenthaltung detailiert und in ihrer Entwicklung beschreiben. Du solltest darauf eingehen, warum Parteien kontinuierlich Mitglieder verlieren und ob das mit der Individualisierung in einer post materialistischen Gesellschaft zusammen hängt. Du solltest beleuchten warum Bürger ganz schnell mobilisierbar sind, wenn sie gegen etwas protestieren aber ganz selten aktiv werden, wenn es für etwas geht.

    So, und nun habe ich keine Lust mehr und gucke „Scrubs“ auf DVD weiter :)

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  4. So, zunächst herzlichen Dank für den ausführlichen Kommentar und die vielen fachlichen Einwendungen. Allerdings muß ich doch darauf insistieren, daß mein kurzer Essay nicht das Wahlverhalten und dessen Faktoren zum Inhalt hatte, sondern lediglich darauf verweisen wollte, daß Politik mehr ist, als die im strengen (und engen) Sinne politischen Vorgänge in Parlamenten, Ministerien und Parteien.

    Und die Bezugnahme auf den Rückgang der Wahlbeteiligung sollte (an den von Dir bemängelten Stellen) lediglich einige ausgewähle Faktoren anführen, die für die Wahlentscheidung bzw. die Entscheidung nicht zu wählen, verantwortlich gemacht werden könnnen. Und, wie ich zu zeigen versucht habe, einige dieser Motive gründen nicht in einer generellen Ablehnung von Politik (wie eben in der Rede von „Politkverdrossenheit“ zum Ausdruck kommt), sondern basieren bspw. auf der individuellen Wahrnehmung von Politikern, die relativ gesehen als „farblos“ erachtet werden.

    Ich wollte keineswegs den Eindruck erwecken, das Wahlentscheidungsverhalten sei ausschließlich auf subjektive Sympathie/Antipathie und das Mißfallen der Polittalkshows zurückzuführen. Du hast zu Recht darauf hingewiesen und ich gestehe zu, daß man (wenn man die Passage ungeachtet des Kontextes liest) meine Aussage an der Stelle so interpretieren könnte.

    Insofern besten Dank für deine ergänzenden Anmerkungen an diesem Punkt. Daß andere Facetten und Dimensionen (Cleavages etc.) zur Erklärung des Wahlverhaltens herangezogen werden müssen, steht außer Frage.

    Abgesehen davon muß ich anmerken, daß ich „Rational-Choice-Ansätze“ nur für sehr bedingt erklärungskräftig erachte. Auch und gerade das Verhalten von Individuen in der politischen Sphäre ist nur unzureichend in einer Matrix von Nutzenmaximierung/Kostenminimierung abzubilden.

    Die Hinweise auf die biographisch-historischen Unterschiede zwischen der aktuellen Politikergeneration und der ersten Nachkriegsgeneration (Adenauer, Erhard, Strauß…) sind zwar zutreffend, aber mein Anspruch war auch gar nicht, die Differenzen hinsichtlich Stil und Habitus zu erklären. An der Feststellung, daß heute eine stärkere Konsensorientierung (oder böse gesagt: Profillosigkeit) vorliegt, hast Du – wenn ich dich recht verstehe? – doch auch nichts auszusetzen?

    Genausowenig habe ich übrigens bestritten, daß in den 60er und 70er Jahren nicht bereits Prozesse sichtbar waren, die auf transnationale Verflechtungen (Stichwort: Ölkrise und ‚Bretton Woods‘) zurückzuführen sind. Politik war immer schon eingewoben in übergreifende Zusammenhänge und mußte unter Rücksichtnahme darauf agieren. Die Zunahme der angesprochenen Tendenzen in Quantität und Qualität ist aber – soweit ich sehe – unbestritten. Gleichzeitig kam es mir auch ausschließlich darauf an, daß seit den 80er Jahren diese Phänomene sukzessive ins Bewußtsein der Öffentlichkeit sickern. Zuvor wurden sie allenfalls als randständig wahrgenommen, erst nun führt die Kenntnisnahme bei einem kleinen Teil der Wahlbürger (so eben meine Vermutung) zu einer Wahlverweigerung, die der Wahrnehmung dieser eingeschränkten Handlungsfähigkeit des Nationalstaats geschuldet ist. Unpolitisch würde ich dann aber diese Haltung nicht nennen wollen.

    Ebenso, und das eine meiner letzten Rechtfertigungen, kann ich deinem Hinweis, daß es in der EU keine demokratiefreien Räume gebe, nur zustimmen. Aber: daran habe ich auch an keiner Stelle gezweifelt.

    Zuletzt – selbst wenn es für dich eine „Binsenweisheit“ ist: ich halte es für legitim und keineswegs überflüssig darauf zu verweisen, daß auch alltägliche Handlungen dezidiert politisch verstanden werden können und sollen. Und daß wir (wie ich in den letzten Absätzen meines kurzen Essays skizziere) in ganz unterschiedlichen Kontexten uns immer schon politisch verhalten, artikulieren und auseinandersetzen, ist ein Punkt, der es mir wert war nochmals betont zu werden.

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