Recherche ist Luxus! Nachdenken auch? » Mehr oder minder läßliche Sünden des konventionellen Journalismus

Zeitung_03.jpgDie wunderbare Band Tocotronic sang vor 13 Jahren: »Es ist nicht leicht Musik zu machen«. Was für das Rockbusiness stimmt, kann wohl ohne weiteres auch auf die Medienbranche übertragen werden: »Es ist nicht leicht Journalismus zu betreiben.«

Aber auch wenn man zugesteht, daß Zeitdruck und andere widrige Arbeitsbedingungen teilweise die journalistische Arbeit beeinträchtigen: manche Fehler der journalistischen Kollegen sind kaum mehr unter der Rubrik »Schlamperei« abzuheften. Manchmal grenzt es schon an Arbeitsverweigerung…

Wer sich alltäglich den Unmengen an Nachrichten und Meldungen stellt, die auf den Mediennutzer hereinprasseln, der ist nicht überrascht, daß ab und zu fehlerhafte Informationen darunter sind. Erstaunlich ist häufig nur, daß es nur weniger Mausklicks bedurft hätte, um die irreführende Information in eine zutreffende zu verwandeln.1 Eigentlich sollte man das den bezahlten Herrschaften in den Redaktionen schon zumuten. Finde ich. Ein paar Mausklicks, um mir einen sachlich korrekten Artikel zu präsentieren. Zuviel verlangt? Warum habe ich manchmal den Eindruck, man sei zu faul nachzudenken? 

Der BILDBlog entlarvt die haarsträubenden Fehler der Bildzeitung. Geschenkt! Wo bleibt der Watchblog, der die Schlampereien der seriöseren Blätter in den Blick nimmt?

Den Bildblog kennt (fast) jeder. Das Projekt des Gespanns Schultheiß/Niggemeier, das sich der Aufklärung über die Praktiken des Springerschen-Boulevard-Journalismus verschrieben hat, ist verdienstvoll und hat hohen Unterhaltungswert.

Aber, seien wir ehrlich: wer ist ernsthaft überrascht, wenn er liest, wie sich die Bild-Zeitung die Wahrheit so zurechtbiegt, daß sie am Ende in fette Buchstaben auf die Titelseite paßt?

Viel erstaunlicher ist doch, welche großen und kleinen Ungenauigkeiten auch in den vermeintlich untadeligen Qualitätsblättern zu finden sind. Nähme man FAZ, SZ, FR, Spiegel und Co. zusammen und sammelte deren Fehler, so ließe sich daraus spielend leicht ein Journalismus-1.0-Watchblog zimmern. Wenn ich nur denke, wie häufig allein mir nachlässige Recherchearbeit oder auch grobe Schnitzer auffallen. Es müßen ja nicht immer Fehlermeldungen vom Kaliber eines Einradfahrenden-Humorforschers sein, dessen vermeintliche Erkenntnisse allerorten verbreitet werden, ohne in die Originalstudie zu schauen.

Allein gestern bin ich über 2-3 Fälle von Falschinformation und Schlamperei gestolpert. Der ärgerlichste Artikel stand im Berliner Tagesspiegel.2 Denn gleich in der früh mußte ich mich über die Bequemlichkeit und fehlende Denkbereitschaft von Irja Most ärgern, die ein wenig über die kommerziellen Potentiale des Bloggens philosophierte. "Bloggen für Millionen" ist der Artikel nett-doppeldeutig betitelt. Ich weiß nur, daß Irja für diesen Text – wäre er kein journalistisches Erzeugnis einer Hauptstadtzeitung, sondern ein normaler Blogpost – ordentlich Prügel bekommen hätte. Denn was steht da bitteschön im zweiten Absatz?

Bloggen ist auch in Deutschland längst zum Volkssport geworden. Jeder fünfte Internet-Nutzer bloggt, zeigt eine Erhebung des Branchenverbandes Bitkom im Jahr 2007, das auch das Rekord-Jahr für Online-Werbung war.3

Hallo? Als ich diese Passage las, wußte ich nicht, ob ich mich amüsiert am Boden kringeln oder mir doch eine fette Notiz ("Lies nie wieder einen Tagesspiegelartikel!!!") machen sollte. Liebe Irja Most, das ist doch bitte nicht Ihr Ernst? – "Jeder fünfte Internet-Nutzer bloggt…"???

Wieviele Blogs gibt es? – Ein, zwei, fünf oder zehn Millionen? Wer bietet mehr?

Schonmal drüber nachgedacht, was das hieße? Denkt man nicht nach, wenn man sowas schreibt? Gibt es beim geschätzten Tagesspiegel keinen Redakteur, der über solch haarsträubende Patzer stolpert?4 Hier geht es nicht einmal um Detailwissen, sondern es genügt der gesunde Menschenverstand: denn wenn jeder fünfte Internetnutzer tatsächlich bloggen würde, dann gäbe es zig Millionen Blogs! Ist das plausibel? Wo sind die?

Da behauptet man frech "Bloggen ist Volkssport" und stellt die Zahl von ca. 10 Millionen Blogs in den Raum. Ob dies auch nur im mindesten plausibel ist, interessiert niemanden…

Warum versucht man es nicht mit der Eingabe von 1-2 vielversprechenden Suchbegriffen bei Google, um eine solche Information zu überprüfen? Dann fände man nämlich beispielsweise Daten des Statistischen Bundesamtes (etwa hier) oder diejenige des Allensbacher Instituts (etwa hier). Deren aktuellen Studien zufolge kann man davon ausgehen, daß rund 70% der über 10-jährigen das Internet mehr oder minder regelmäßig nutzen.

Das sind grob überschlagen (Nachkommastellen interessieren nicht) 50 Millionen Bundesbürger. Und davon, liebe Frau Most, gehört ihrer Meinung nach ein Fünftel der Blogosphäre an? Erstaunlich, denn die absurde Zahl von 10 Millionen Blogs hat bislang noch kein Unwissender herbeigeschrieben…5

Ach herrje, wieso schreibt man so einen Quark? Zu faul zum denken? Wenigstens hätte man sich ein wenig durch die leicht auffindbaren Erhebungen klicken können.6 Und da hätte man etwa bei der ACTA (Allensbacher Computer- und Technikanalyse) lesen können, daß rund 2% der Webnutzer angeben, regelmäßig Blogs zu lesen! LESEN! Nicht: selbst schreiben!!!

Aber das heißt, daß wir von rund einer Million intensiven Bloglesern ausgehen dürfen. Na? Ist das nicht ein gewisser Widerspruch zwischen einer Million Blogleser und den angeblich zehn Millionen, die selbst einen Blog betreiben? 

Damit wir das Rätsel auflösen: Blogs selbst gibt es – die Zahlen variieren – wohl zwischen 100.000 und 300.000. Lieber Tagesspiegel, würdet Ihr Euch das bitte für die Zukunft notieren und nicht wieder ein Zahl in den Raum stellen, die fast um den Faktor 100 zu hoch ist? Danke!

Wer spendiert der Tagesspiegelredaktion einen Recherche-Grundkurs?

Nach dem bärenstarken Einstieg in den Text, ist man dann fast überrascht, daß es halbwegs informativ weitergeht. Allerdings sind im weiteren Text, in dem die These aufgestellt wird, es sei mit einem professionellen Special-Interest-Blog auch in Deutschland möglich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, weitere Ungenauigkeiten enthalten. Beispiele gefällig?

Es geht damit los, daß Irja Most auf das Adical-Netzwerk von Lobo/Haeusler zu sprechen kommt:

Gemeinsam mit Werber Sascha Lobo startete Spreeblick-Blogger Jonny Haeusler das Netzwerk adical vor knapp einem Jahr. Jüngster prominenter Etat-Gewinn ist Bildblog.

Das ist alles nicht ganz falsch, allerdings bin ich etwas irritiert, wenn mir im Februar 2008 erklärt wird, daß der Bildblog offenbar erst kürzlich zu Adical hinzugestoßen sei. Ich mag jetzt nicht den konkreten Monat beschwören, aber ich sehe die Adicals seit letzten Mai oder Juni beim Bildblog blinkern. "Jüngster prominenter Etat-Gewinn…" hört sich für mich anders an.

Ebenfalls aus der Kategorie "Irreführung durch Halbinformation" stammt die Info im folgenden Absatz. Dort steht:

Robert Basic hat seine ganz eigene innovative Idee, um mit Werbung Einnahmen zu machen: Werbeakquisition 2.0. Er überlässt seinen Lesern, welche Werbung sie auf seiner Seite sehen wollen. Sie akquirieren die passenden Kunden und bekommen für die Vermittlung ein Drittel ab.

Nun trifft es zu, daß Robert diese (in meinen Augen wirklich pfiffige) Idee hat und es prinzipiell jedem Leser freisteht, einen Werbepartner für Robert zu akquirieren. Die ganze Geschichte ist das aber nicht. Eigentlich hätten auch die Tagesspiegelleser ein Recht auf die vollständige Info und die beinhaltet, daß Robert bislang (jedenfalls nach meinen Infos, aber man könnte bei Robert auch nachfragen) noch keinen Werbepartner auf diese Weise an Land gezogen hat. Kann zwar noch kommen, ist aber bis dato nicht so…

Seien wir großzügig: Man kann die Besucher pro Tag und diejenigen pro Woche durchaus mal in einen Topf werfen. Daß Genauigkeit im Umgang mit Zahlen nicht zu den Tugenden von Irja Most zählt, wissen wir ja…

Und am Ende des Artikels wundert man sich dann auch nicht mehr großartig, wenn man von einem populären Promiblog names "Viply" liest:

Etwas in der Art in Deutschland gibt es zum Beispiel mit viply. Allerdings stehen auch hier ganz nach dem Motto "one step to hollywood" ausschließlich US-Promis im Fokus des Blogs. In der Hitliste von Topblogs rangiert viply zurzeit auf Platz 1 mit über 113.000 Besuchern pro Tag

Hossa! Das sind Zahlen! Ich mag mich gar nicht drüber auslassen, daß dieses herangezogene Topblog-Ranking recht zweifelhaft ist7 – aber die 113.000 Besucher pro Tag sind offensichtlicher Humbug. Soweit ich sehe wird in der Topblog-Statistik die Anzahl der Besucher pro Woche (!) angezeigt. Ein gewisser Unterschied, aber nähme man es beim Tagesspiegel etwas genauer mit den Zahlen und Fakten, dann käme möglicherweise keine so runde Geschichte heraus… ;-(

 


 

Keine Linkempfehlung:

Nachhilfe:

 

  1. Das Symbolphoto stammt von stockxchng (User: lusi) []
  2. Um es zu betonen: ich halte diesen Artikel "nur" für ärgerlich. Er steht dabei prototypisch für viele andere, die fast jeden Tag auch in Qualitätszeitungen stehen. Es gibt einige andere Versäumnisse des Journalismus, die ich für gravierender halte… []
  3. Irja Most bezieht sich offensichtlich auf diese Bitkom-Untersuchung. Dort werden auch 70%-Internet-User angegeben. Leider finde ich keine Aufschlüsselung zu den Blogbetreibern. Möglicherweise ist diese Info kostenpflichtig. Allerdings sollte es mich wundern, wenn dort 1/5 stehen sollte. Entweder ist die Studie Mist oder hat Irja Most falsch abgeschrieben… []
  4. Und eigentlich hätte man ja eher davon ausgehen können, daß beim Tagesspiegel höhere Web2.0-Expertise gegegeben sei. Schließlich ist Mercedes Bunz ja Chefin des Onlineauftritts. []
  5. Wenn man nur kurz Google bemüht, so findet man sofort auch diesen FAZ-Artikel. Dort polemisiert Harald Staun gegen Blogs, aber er schreibt immerhin auch: "Drei Prozent der Internetnutzer, ergab Ende vergangenen Jahres eine Studie der PR-Agentur ZPR, betreiben ein Weblog, …" – Diese 3 Prozent ließe ich mir ja gefallen. Wie man auf 20% kommt, bleibt wohl Irja Mosts Geheimnis. []
  6. Oder bspw. auch nur beim bloggenden Kollegen Benedikt Köhler vorbeigucken, der solche Infos auch bereithält. Bspw. hier und hier. []
  7. Und es einige anderer zuverlässigere Alternativen gegeben hätte, um die meistbesuchten Blogs herauszufiltern. []

9 Gedanken zu „Recherche ist Luxus! Nachdenken auch? » Mehr oder minder läßliche Sünden des konventionellen Journalismus“

  1. @Steffen:

    Danke für den Hinweis – etwas in der Art stelle ich mir vor. Wobei dieser FAZ-Watchblog nur alle paar Wochen mit neuen Artikeln aufwartet. Das müßte man (wenn schon, denn schon) auf eine engagiertere Weise tun. ;-)

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  2. An der Kritik ist was dran, wir haben das folglich teilweise berichtigt. Netter wäre allerdings gewesen, das nicht nur hier zu posten, sondern die Redakteurin oder zumindest die Redaktion direkt darauf aufmerksam zu machen. Hoffentlich beim nächsten Mal. : )

    Herzlichen Gruß,

    mercedes bunz

    Antworten
  3. @Mercedes:

    Ja, ich bin geständig, ich hätte meine Anmerkungen auch an Euch/Dich weiterleiten können – zumal ich sogar die direkte Mailadresse vorliegen habe. ;-)

    Ich hatte gelegentlich bei ähnlichen Fällen schon direkt an die betroffenen Autoren geschrieben, aber kein Feedback bekommen. Von einer Korrektur keine Spur. Und diesmal habe ich schlicht nicht drangedacht. Das nächste Mal reklamiere ich lautstark.

    Aber, es spricht für Euch, daß ihr Fehler korrigiert. Allerdings lese ich jetzt folgende Passage im korrigierten (!) Text:

    Rund acht Prozent schreiben mindestens einmal pro Monat Beiträge in eigenen oder fremden Blogs. Weitere zwölf Prozent bloggen gelegentlich. Fast jeder zweite liest Online-Tagebücher.

    Aus dem Kontext geht hervor, daß sich diese Zahlen wohl auf die Gesamtbevölkerung beziehen (sollen).

    Um ehrlich zu sein, bin ich mit dieser „Korrektur“ nicht unbedingt glücklicher: denn ich lese von 8%, die mindestens einmal pro Monat den eigenen Blog befüllen oder zumindest fremde Blogs mit Comments bereichern. Zusätzlich (so steht es da) gäbe es 12%, die „gelegentlich“ bloggen.

    Das macht, wenn mich nicht alles täuscht: 20%. Wenn man diesen neuen Infos glauben soll, dann sind 20% der deutschen Gesamtbevölkerung entweder Blogger oder wenigstens Blogkommentatoren. In Zahlen ausgedrückt wären das aber 16,4 Millionen Bundesbürger!

    Entschuldigung, das ist noch viel größerer Käse, als zuvor.

    Aber es geht ja noch wunderschön weiter, denn der Satz: „Fast jeder zweite liest Online-Tagebücher“, bezieht sich ja ebenfalls auf die Gesamtheit. Bedeutet also konsequenterweise: wir müssen von ca. 40 Millionen Bloglesern ausgehen.

    Nö! Das ist doch nicht Euer Ernst?

    Daß im letzten ergänzten Satz folgendes steht:

    Das führt zumindest die Internet-Benutzer-Analyse von Fittkau & Maaß Consulting an, wie der Branchenverband Bitkom berichtet…

    macht es nicht besser. Denn selbst wenn „Fitkau&Maaß Consulting“ solche Werte verkündet. Sie sind grottenfalsch.

    Ich verstehe es wirklich nicht, weshalb man so an der Sache vorbeischreiben kann.

    P.S.: Mail mit dem Hinweis auf die immer noch unzureichenden Infos folgt. Und andere Falschinformationen (113.000 Besucher/Tag bei „viply“ etc.) stehen ja noch wie vor im Text.

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  4. Lieber Marc, da ich keine Trackbackfunktion habe, informiere ich Dich auf diesem Wege. Deinen Titel fand ich so treffend, dass ich ihn- Deine Erlaubnis voraussetzend- direkt so übernommen habe. Es wird noch mindestens ein weiterer Beitrag folgen, um die genaueren Details zu besprechen:

    http://schulpaedagogik.blogspot.com/2008/02/recherche-ist-luxus-nachdenken-auch.html
    „Recherche ist Luxus! Nachdenken auch? » Mehr oder minder läßliche Sünden des konventionellen Journalismus“ so titulierte Marc Scheloske in seinem Blog Wissenswerkstatt die Oberflächlichkeiten und Schlampigkeiten des konventionellen Journalismus und nahm auch „renommierte“ Blätter wie FAZ, SZ, FR, Spiegel und Co. aus seiner Kritik nicht heraus.

    Leider sehr zu Recht, wie die aktuelle Spiegel-Titelstory „Krippe oder Kinderzimmer“ – Wie viel Mutter braucht das Kind? zeigt…….

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  5. Übrigens: UniversalMcCann kommen in ihrer wave3 ebenfalls zu sehr hohen Zahlen, allerdings auf einer recht zuverlässigen Datenbasis: Hier sind es 28% der aktiven Internetnutzer, die bloggen. Oder besser: schon einmal damit begonnen haben ;-) Immerhin haben also fünf Millionen Bundesbürger schon einmal irgendwann damit angefangen.

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  6. @Benedikt:

    Ja, die wave3-Zahlen sind auch (in meinen Augen) erstaunlich hoch. Du erinnerst mich mal wieder, daß ich dazu noch ein paar Zeilen verlieren wollte.

    Allerdings habe ich auch dort das Gefühl, daß Äpfel und Birnen zusammengeworfen werden. Blogleser, Blogger und Blogkommentatoren werden nicht sauber auseinandergehalten (das jedenfalls mein Verdacht).

    Denn ganz unter uns: 5 Millionen Bundesbürger, die sich irgendwann mal wenigstens einen Blog eingerichtet haben und zumindest mal ein paar Takte geschrieben… Hmmm….? Ehrlich? Wo sind 1.) all die „Blogleichen“? Alle wieder komplett gelöscht? 2.) Sind diese Zahlen plausibel, wenn sie etwa mit den in meinen Augen nachvollziehbaren Zahlen der ACTA kaum übereinstimmen?

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