Die eingebildeten Kranken: Wenn Informationen krank machen

Über Nocebos und die Verantwortung des Journalismus

Der eingebildete Kranke - Honoré DaumierGlaube kann Berge versetzen. Und krankmachen. Dann etwa, wenn bestimmte Informationen konkrete Ängste wachrufen und die Betroffenen schließlich Symptome zeigen. Eine aktuelle Studie belegt die Effektivität solcher Nocebos.1

Vor ziemlich genau 340 Jahren schrieb Molière seine fabelhafte Geschichte vom bemitleidenswerten Hypochonder Argan, der sich seine Krankheiten quasi per Autosuggestion einimpft: „Le Malade imaginaire“. – Wie hoch die Ziffer der „eingebildeten Kranken“ wohl ist, die täglich in den Wartezimmern Platz nehmen?

Der Nocebo-Effekt, der (finstere) Zwillingsbruder des Placebos, wurde bislang relativ wenig erforscht. Eigentlich erstaunlich, daß die Forschung zu diesem Thema noch ziemlich in den Kinderschuhen steckt. Zu den (positiv wirkenden) Placebos ist man zwar in Medizin und Psychologie seit einiger Zeit recht aktiv, doch die (negativ wirkenden) Nocebos wurden bislang vernachlässigt.2

Eingebildete Elektro-Smog-Symptome

Einen simplen, aber umso eindrucksvolleren Ansatz wählte jetzt der Psychologe Michael Witthöft von der Uni Mainz. Bei einem Forschungsaufenthalt am Londoner King’s College zeigte er zunächst insgesamt 147 Probanden einen Fernsehbericht. Der eine Teil bekam eine BBC-Fernseh-Doku zu sehen, in der die gesundheitlichen Risiken von Mobilfunk und WLAN thematisiert wurden. Der andere Teil sah stattdessen eine (unverdächtige) Doku über Datensicherheit im Internet.

Alles Einbildung?: Zwei Probanden brachen den Test vorzeitig ab. Im zweiten Teil des Versuchs wurde allen Probanden mitgeteilt, daß sie vorübergehend einem WLAN-Feld ausgesetzt seien. In Wirklichkeit gab es aber kein solches WLAN-Signal. Interessanterweise berichtete mehr als die Hälfte (54%) aller Testpersonen über die vermeintlich typischen Elektro-Smog-Symptome. Konzentrationsstörungen, Kribbeln in Fingern, Armen, Beinen etc. Darunter v.a. solche, die die Strahlenrisiken-Doku gesehen hatten. Zwei Probanden brachen den Test sogar vorzeitig ab, weil die Symptome so heftig waren und sie sich nicht noch länger der (eingebildeten!) WLAN-Strahlung aussetzen wollten.

Toll, oder? ;-) Solche Studien liebe ich. Die Untersuchung von Michael Witthöft zeigt wunderschön, wie wirkmächtig negative Gedanken sind. Allein die angebliche Strahlenexposition (und die wachgerufenen Ängste durch die Doku) führte zu 54% elektrosensiblen Menschen, die z.T. heftige körperliche Reaktionen spürten! Wobei die Reaktion stärker und häufiger bei Menschen ausfiel, die generell etwas „ängstlicher“ waren.

Nachdenken über die Ethik des Wissenschafts- und Technikjournalismus?

Einen interessanten Aspekt des Themas spricht Witthöft (vgl. Pressemitteilung zur Studie) selbst an: welche Schlußfolgerungen zieht eigentlich der Journalismus aus solchen Erkenntnissen? Wie werden Risikotechnologien angemessen dargestellt? Wie sieht es mit Zuspitzungen aus? Wie wählt man die Bebilderung usw.? Witthöft sagt:

„Die Wissenschaft und die Medien müssen unbedingt stärker zusammenarbeiten und sich darum bemühen, dass Berichte beispielsweise über mögliche Gesundheitsrisiken neuer Technologien so wahrheitsgetreu wie möglich und nach bestem Wissensstand an die Öffentlichkeit gelangen.“

Eigentlich sollten solche Studien Bestandteil jeder Volontärs- und Journalismus-Ausbildung sein. Denn vom Placebo-Effekt und der positiven Kraft der Gedanken hat wohl jeder schon mal gehört. Aber dessen finsteren Zwillingsbruder, den Nocebo-Effekt, kennt kaum jemand. Dabei handelt es sich schlicht um zwei Seiten einer Medaille. Beides mal sind es kognitive Prozesse, die „angetriggert“ werden und die als (positive oder negative) Erwartungshaltung durchschlagen.

Zu diesem Thema kann ich übrigens das 15-Minuten-Gespräch zwischen Arvid Leyh und dem Placebo-Forscher Paul Enck empfehlen.

Bild: „Der eingebildete Kranke“ von Honoré Daumier

  1. Als Placebo-Effekt wird die Reaktion eines Patienten auf ein medizinisches Präparat ohne Wirkstoff bzw. generell auf jede von sich aus wirkungslose medizinische Intervention bezeichnet. Nocebo-Effekte sind analog negative Symptomveränderungen, ohne daß tatsächlich ein Wirkstoff oder eine Therapie vorliegt. []
  2. Am besten sieht die Forschungslage noch bei den Beipackzetteln aus, die – hier sind ja meist jede Menge negative Nebenwirkungen genannt – ebenfalls als Nocebo funktionieren. []

5 Gedanken zu „Die eingebildeten Kranken: Wenn Informationen krank machen“

    • @Lars:

      Warum? In meiner Überschrift? Waren in der Studie ja mehrere Probanden, die plötzlich über Symptome berichteten. Insofern „eingebildete Kranke“. Bei Molière war es freilich nur einer. Da hast Du natürlich recht. :-)

  1. Sehr guter Artikel. Im Januar fand in Tübingen der weltgrößte Kongress der Placebo-Forscher statt. Aber die Forschung ist hier erst am Anfang. Wer tiefer in das Thema einsteigen möchte, findet auf YouTube ein interessantes Interview mit Prof. Paul Enck – einem der führenden Placebo-Forscher – warum der Glaube eben nur manchmal Berge versetzen kann.

    Antworten
  2. Das ist echt ein unheimlich interessantes Thema. Menschen können sich wirklich alles einbilden, insbesondere wenn sie einen kleinen Anstoß von außen erhalten. Ich kannte diesen Effekt nur aus der Hifi-Branche wo jedem Kabel, Verstärker, CD-Player, etc. eine starke klangverändernde Eigenschaft angedichtet wird um höhere Verkaufspreise zu erzielen. Diese Effekte halten keinem Bilndtest stand. Mir war bisher auch noch gar nicht so sehr bewusst, dass es solche Nocebos gibt. Hoffentlich wird die Wissenschaft auf dieses Thema aufmerksam, schließlich könnte man so vielen Menschen helfen!

    Antworten

Schreibe einen Kommentar