Mehr Mathematikunterricht für Meeresbewohner! » Über zählende Fische und die Bedeutung der Sprache für unser Zahl- und Weltverständnis

Mosquitofish_01a.jpgIch weiß nicht, ob Fische ficken – auch wenn viele Cineasten diese Frage vermutlich mit "Ja" beantworten würden. Ich weiß aber, daß Fische zählen können. Und das, obwohl ihnen natürlich keine Sprache zur Verfügung steht, um Zahlen- und Mengenverhältnisse zu verbalisieren.

Wenn es darum geht, zu zählen und Gegenstände zu erfassen, sind Fische  – wie jüngste Studien zeigen – dem Menschen durchaus ebenbürtig, stünde diesem die Sprache nicht zur Verfügung.

Zählen ist doch ein Kinderspiel. Sobald ein kleines Kind seine Welt und die vielen spannenden Gegenstände, die darin vorkommen, entdeckt, beginnt es auch deren Anzahl zu beziffern. Ob ein, zwei oder drei Äpfel auf dem Tisch liegen – auch sehr kleine Kinder können bald die Mengen und Größenverhältnisse abschätzen. Wenn die Zahl der zu erfassenden Gegenstände aber größer als vier wird, dann stößt die Fähigkeit sich zu orientieren schnell an seine Grenzen. Aktuelle Studien zeigen, daß es erst die Sprache und deren Zahlwörter ermöglicht, daß wir uns den Zahlenraum jenseits der Zahl drei erschließen können. 

Zählen ist kein Kinderspiel: für Mengen größer als vier, brauchen wir unbedingt die Sprache

Die Bedeutung numerischen Vokabulars

Fehlt die Sprache vollständig oder mangelt es dem Wortschatz an Zahlwörtern, dann können auch erwachsene Menschen kaum größere Summen beziffern, bewerten und einschätzen. Im Jahr 2004 berichtete Peter Gordon von Angehörigen der Pirahã in Brasilien. Der Stamm der Pirahã umfaßt nur 200-300 Personen und bevölkert das Amazonasgebiet nahe des Maici-Flußes. Und – diese Besonderheit macht die Pirahã für Linguisten so spannend – die Sprache der Pirahã kennt, abgesehen von den Begriffen "eins", "zwei" und "viele", keine Zahlwörter.

"Die Pirahã sind keineswegs "zurückgeblieben". Ihre Sprachkenntnis, ihr räumliches Vorstellungsvermögen und ihr Umgang beim Fischen und Jagen sind bemerkenswert. Die Zuordnung zu Zahlen spielt für diese Menschen offenbar keine Rolle. Die Fische, die gefangen werden, sind entweder wenige oder viele. Bei der Jagd wird nur ein Tier, bestenfalls zwei Tiere erlegt. Im Krieg sind die Feinde ein, zwei oder viele Angreifer. Dass Zahlen für den Bewohner des tropischen Regenwaldes keine Bedeutung haben, liegt in den natürlichen Lebensbedingungen begründet."

So die plausible Erklärung, die Herbert Hasenbein in telepolis gab.1 Nun ließe sich dieser Befund durchaus im Sinne der Sapir-Whorf-Hypothese interpretieren. Diese besagt in ihrer ursprünglichen Fassung, daß unsere Muttersprache die Struktur und Inhalte unseres Wahrnehmens und Denkens beeinflußt. Wem also – so die naheliegende Erklärung – in seiner Sprache die Zahlbegriffe fehlen, der wird mit größeren Mengen nicht umgehen können.

Wittgenstein hatte Recht: "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt." — Und ist die Sapir-Whorf-Hypothese damit bestätigt?

Allerdings könnte man einwenden, daß es ja eben für die Pirahã keine Notwendigkeit gäbe, größere Mengen zu bezeichnen und sie auch schlicht ungeübt darin seien. Wenn man genug "Training" habe, dann sei die Prägung der Sprache zu vernachlässigen…

Daß dieser Einwand nicht haltbar ist, zeigen nun aktuelle Untersuchungen von Elizabet Spaepen. Die Linguistin der University von Chicago hatte eine spezielle Gruppe gehörloser Menschen beobachtet, die aus bestimmten Gründen keine Gebärdensprache gelernt haben und sich nur durch selbsterlernte Zeichen verständigen. Diese Personen leben aber – im Gegensatz zu den Pirahã – in einer Umwelt, in der der Umgang mit größeren Zahlenwerten durchaus üblich und notwendig ist. Und Spaepen stellte fest, daß diese sog. "Home-Signers" sich auf einem vergleichbaren Zähl-Kompetenzlevel bewegen, wie die Pirahãs. Selbst wenn die gebärdensprachfrei aufgewachsenen Gehörlosen ihre Finger zu Hilfe nahmen, waren alle Mengen größer als vier ein Problem.

Spaepen schlußfolgert, daß es eine notwendige Bedingung darstellt über numerische Begriffe zu verfügen, um sich in komplexeren Zahlenräumen zu orientieren. Die Sapir-Whorf-Hypothese und damit der linguistische Relativismus ist um ein Indiz reicher.

Die mathematischen Talente der Moskitofische

Zu diesen Befunden paßt eine Studie, die der italienische Experimentalpsychologe Christian Agrillo von der Universität Padua durchgeführt hat.2 Die Forscher machten sich das Verhalten weiblicher Mosquito-Fische zu nutze, die sich bei Angriffen durch Männchen dem nächstgrößeren Fischschwarm anschließen, um darin "unterzuschlüpfen". 

Im Zahlenraum bis einschließlich "vier" orientieren sich Fische ebenso sicher wie Menschen. Wenn es darum geht, die Größe von Fischschwärmen zu taxieren, dann "zählen" die Mosquitofische sehr genau…

Die Wissenschaftler stellten fest, daß die weiblichen Fische sehr zielsicher genau den größten Schwarm wählten: wenn ein kleiner Schwarm mit drei und einer mit nur zwei Fischen vorbeikam, dann wählten sie den größeren. Auch bei anderen Konstellationen waren sie treffsicher. Erst wenn die  Fischschwärme größer wurden, war die Entscheidung nicht mehr so leicht. Bei Schwärmen bestehend aus mehr als vier unterscheiden die Fische aber dennoch die Anzahl – wenigstens dann, wenn sich die Größenverhältnisse um den Faktor 2 unterscheiden. Ein Schwarm mit 16 Fischen wurde bspw. als größer identifiziert, als einer mit nur acht Mitgliedern.

Christian Agrillo sagte:

"We have provided the first evidence that fish exhibit rudimentary mathematical abilities."

Was lernen wir daraus? Fische weisen ein mathematisches Verständnis auf, das mit demjenigen von Menschen vergleichbar ist, wenn diese keine Zahlbegriffe in ihrer Muttersprache besitzen. Ist diese Erkenntnis nun ernüchternd oder ein weiteres Indiz dafür, was für ein faszinierendes Instrument Sprache ist? Sind wir anderes als ein "sprachbenutzendes" Tier?

 


 

Links:

  • Christian Agrillo, Marco Dadda, Giovanna Serena, Angelo Bisazza (2008): Do fish count? Spontaneous discrimination of quantity in female mosquitofish. in: Animal Cognition, 2008, Feb 5. [Abstract]
  • Clover, Charles (2008): Fish can count to four – but no higher, telegraph, 26.2.2008
  • Coppola, Marie / Spaepen, Elizabeth / Kontovas, Nicholas (2006): Number signs in adult homesign gesture systems. In: Quadros, Ronice M. de (ed): TISLR 9 : Theoretical Issues in Sign Language Research 9 : 9 Congreso International de Aspectos Teóricos das Pesquisas nas Linguas de Sinais. December 6 to 9, 2006 Universidade Federal de Santa Catarina Florianópolis, SC Brasil. Florianópolis : Lagoa Editora (2006) – pp. 55-56 [Abstract]
  • Gordon, Peter (2004): Numerical Cognition Without Words: Evidence from Amazonia, in: Science, Vol. 306, pp. 496-499; www.sciencemag.org/cgi/content/full/1094492/DC1 [Download als PDF]

 

 

  1. vgl.: Hasenbein, Herbert (2004): Eine Welt ohne Zahlen und ohne Farben, telepolis, 21.8.2004 []
  2. Den Hinweis verdanke ich Tobias Maier vom Blog "Weitergen". []

1 Gedanke zu „Mehr Mathematikunterricht für Meeresbewohner! » Über zählende Fische und die Bedeutung der Sprache für unser Zahl- und Weltverständnis“

  1. Über die Bedeutung der Sprache für unser Zahl- und Weltverständnis sind sich allerdings nicht alle Wissenschaftler einig.
    So gibt es immer wieder verblüffende Forschungsergebnisse:
    Hoppla! Schimpansen haben ein besseres Gedächtnis für Zahlen

    Intelligenz bei Tieren – Wo Tiere den Menschen überlegen
    sind…

    welche dann Neurowissenschaftler, Verhaltensbiologen und Psychologen an der Sprachhypothese zweifeln lassen. Auch ich habe da so meine Zweifel. Schaut man dem Affen im Videobeispiel zu, wie er 9 Zahlen in rasender Geschwindigkeit erfasst und sortiert, ohne dass jener meines Wissens einer Sprache mächtig ist ;-)) ….könnte man höchstens noch sagen „Ausnahmen bestätigen die Regel“ oder verwerfen sie doch Hypothesen, welche aufgestellt wurden, als Forschungsergebnisse solcherart noch völlig unbekannt waren? Insbesondere die Primaten- Tierforschung wartet immer wieder mit erstaunliche Studien auf….

    Antworten

Schreibe einen Kommentar