Publikumsbeschimpfung oder: Zumutungen des Hochschullehrerdaseins | Werkstattnotiz IXL

Manchmal denke ich, daß ich mich vor vielen Jahren vielleicht doch besser für ein Lehramtsstudium entschieden hätte; viel hätte nicht gefehlt und ich würde heute vermutlich brav meinen Dienst als Gymnasiallehrer für Deutsch und Sozialkunde tun. Aber so muß ich mich wenigstens nicht mit pubertierenden Schülern rumschlagen, deren Interesse am Unterrichtsstoff sich ohnehin ausschließlich darauf bezieht, wie dieser sich mit minimalem Aufwand und maximalem Ertrag (i.S. optimaler Notenausbeute) kurzfristig auswendig lernen läßt. 

Wie schön hat es demgegenüber doch ein Hochschullehrer, denke ich manchmal, dem engagierte, umfassend gebildete junge Menschen aufmerksam zuhören. Und im nächsten Moment wird mir klar, daß dies ebenso ein Trugschluß ist: denn auch und gerade die Seminarräume hiesiger Hochschulen werden von einem Klientel bevölkert, dem das Prestige und die Karrierechancen, die mit einem akademischen Zeugnis verknüpft sind, viel bedeuten, das damit möglicherweise einhergehende Wissen allerdings wenig.1

Humboldt Adieu – Die Tragik einer Universität, die sich als Dienstleister versteht

Wieviel Prozent der Studenten haben ihr Studienfach wohl aus Interesse und Neugier, wieviele aber strategisch und mit Kalkül auf Karrierechancen gewählt?

Nun könnte ich meinerseits zu einem großen Rundumschlag ausholen, zu einer allgemeinen Kritik der  immer stärker an Effizienzgesichtspunkten orientierten Bildungs- und Hochschulpolitik, die die Aneignung von Wissen leider fast nur noch für legitim hält, wenn damit unmittelbar bestimmte Zwecke verknüpft sind. Daß auf diese Weise freilich Bildung mit Ausbildung verwechselt wird, merken die meisten Hochschulpolitiker schon gar nicht mehr. 

Es gibt aber glücklicherweise noch Hochschullehrer, die Kritik üben, sowohl an der ökonomischen Zurichtung der Universitäten, als auch am vorauseilenden Gehorsam der Studenten, die mit minimalen Investitionen maximal schnelle (Qualifizierungs-)Erträge einfordern.

Anatomievorlesung an der Uni Frankfurt: Desinteresse und Ahnungslosigkeit

Einer dieser unbequemen Geister ist Helmut Wicht, der als Privatdozent im Fachbereich Medizin der Johann Wolfgang Goethe-Universität lehrt. Und Helmut Wicht – Biologe, Anatom, Blogger – scheint mir ein wahrer Thomas Bernhard des Hörsaals zu sein. Seinen vorhin bei "Brainlogs" eingestellten Artikel habe ich mit großem Genuß gelesen. 

Sobald die Klausur bewältigt und der Schein abgeholt ist, ist das Interesse am jeweiligen Fachgebiet auch erloschen.

Wicht schildert eine Anatomievorlesung, in deren Verlauf ihm immer deutlicher wurde, mit welcher Motivation die Studenten dort die Zeit totschlagen. Tatsächliches Interesse am Fach "Medizin"? Fehlanzeige! Bereitschaft gar über die Grenzen des eigenen Fachgebiets hinauszublicken? Illusorisch! 

Die Witze, die Wicht macht, werden entweder ignoriert oder vermutlich nicht verstanden. Gut, vielleicht schadet es nicht, den Pschyrembel mitzuführen, denn Wicht spart nicht mit medizinischer Fachterminologie,2 aber wenn schon ich seine Anspielungen verstehe… ;-)

Wer allen Ernstes einen medizinischen Hörsaal betritt, sollte – so jedenfalls meine Meinung – wenigstens ungefähr wissen, was man unter "Peristaltik" versteht. Aber Wichts Anspielungen verhallen unverstanden im Raum.

Kein Schwein lacht. Weil sie ungebildet sind, nicht wissen, dass es eine Philosophenschule gab (die des Aristoteles), die man "Peripathetiker" nannte, worauf die "Peristaltiker" onomatopoetisch anspielen. Gar nicht zu reden davon, dass keiner weiss, dass "Onomatopoiesis" "Lautmalerei" heisst, und erst recht nicht davon zu reden, dass keiner von diesen pragmatischen Deppen noch irgendeinen Sinn für die klangliche Schönheit eines solchen Wortes hat. Sagen Sie das doch mal halblaut vor sich hin: "Onomatopoiesis" … das ist kein Wort, das ist Musik.

Statt dessen fragt man mich: "Müssen wir das bei der Prüfung in drei Wochen wissen?"

Das bloße Schielen auf den Studienerfolg und die fehlende Bereitschaft, sich möglicherweise eine Spur intensiver mit den Inhalten zu beschäftigen als unbedingt notwendig, das – und ich glaube es Helmut Wicht gern – kennzeichnet die allermeisten Studenten. Daß man als Professor angesichts solcher "Kunden" frustriert ist, kann ich ebenfalls verstehen. Und insofern kann ich Wichts Schimpftirade wirklich nachvollziehen:

Ein Schein, ein Prüfungserfolg, ein akademischer Titel, ein dickes Bankkonto, ein Haufen Scheisse. WAS man da aber verdaut – völlig egal. Wissen ist Mittel zum Zweck.

Endlos könnte ich weiterschimpfen, über die Unsitte der "Kurzlehrbücher" (je dünner je besser, Wissen auf die "Essentials mit Nutzanwendung" reduziert), den Verlust jeden spielerischen Umgangs mit Gewusstem, die stupide Fixierung auf den "klinischen Bezug" (wir sind hier in der Medizin), die Ausmerzung jedes historischen oder gar kritischen Kontextes, die Verwechslung von Bildung mit Ausbildung…

Wichts lesenswerter Beitrag erinnert mich daran, daß ich noch einige Anmerkungen zur aktuellen Verfassung der deutschen Hochschullandschaft schreiben wollte. Diese folgen in wenigen Tagen…

 


Leseempfehlung:

 

 

  1. Ausnahmen – und es gibt glücklicherweise nicht wenige – bestätigen die Regel. []
  2. Allerdings müßte es nach meinem Dafürhalten "Obstipation" heißen, hier hat Wicht wohl ein "r" zuviel spendiert – gemeint ist damit die Darmträgheit bzw. chronische Verstopfung. []

6 Gedanken zu „Publikumsbeschimpfung oder: Zumutungen des Hochschullehrerdaseins | Werkstattnotiz IXL“

  1. Taugen alle diese schönen alten Begriffe Bildung, Ausbildung, Anwendung, Theorie überhaupt noch für die anstehende Diskussion? Oder gar die von den Professoren vielbeschworene „Freiheit der Forschung“, die so bequem für sie selbst ist.

    Meine Meinung: Alles Gejammer! Heute, in der Überflutung mit medialen Reizen, stellt sich für die Universitäten eine ganze andere Frage, nämlich die nach der RELEVANZ der vermittelten Inhalte. Relevanz für den Studierenden, und das heißt egal ob fürs zukünftige Gehalt, für den Durst nach Weltverständnis, oder für den Allgemeinbildungs-Snob. Es gibt genügend Platz für alle drei oder vier oder wieviel auch immer. Aber die Relevanz muß geboten werden, und da sollen die Universitäten und die Herren Professoren untereinander in den Wettbewerb treten – dessen Abwesenheit zu den weiteren Bequemlichkeiten gehört, die sie dick und fett gemacht haben -, und wer sie nicht bietet, muß aufhören, weil sein Hochschullehrerdasein nichts anderes als Privatvergnügen ist.

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  2. Wicht hat sich übrigens auch an anderer Stelle verschrieben: Es heißt Peripatetiker, nicht Peripathetiker. Peripathetiker heißt wörtlich übersetzt „Umherleidender“.

    Angesichts der von Wicht beschriebenen Qualität der Studenten möglicherweise ein geeignetes Synonym für Dozent…

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  3. ..wie ist mir das peinlich, wie leidet das Pathos, das ich so gerne auflege, unter der der patenten (im Sinne von: „offen daliegend“) Peinlichkeit des orthographischen Fehlers.

    ’schulligung.

    Aber IHRE Interpretation des „Umherleidenden“ ist wunderschön. Fast wäre ich geneigt, meinen Fehler sozusagen als „Freudschen Vertipper“ in genau diesem Sinne zu entschuldigen — alleine, es wäre gelogen.

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  4. @FFD:

    Ich sehe nicht, weshalb Begriffe wie Bildung oder Ausbildung ihren Sinn eingebüßt hätten. Daß hier Bedeutungsverscheibungen eingetreten sind, steht außer Frage, aber nur noch alles unter dem Etikett „Relevanz“ subsummieren zu wollen, halte ich für höchst kurzschlüssig.

    Abgesehen davon: Logo, es gibt unzählige Hochschullehrer, die so müde Veranstaltungen anbieten, daß man mit großem Recht besser zu Hause bliebe. Hier dürfte seitens der Dozenten häufig deutlich mehr Engagement an den Tag gelegt werden. Dennoch wollte ich auf den Zwischenruf von Helmut Wicht hinweisen, den ich nicht als Gejammer verstehe, sondern als frustrierte Tatsachenfeststellung…

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  5. „Studenten, die sie verdient haben“, könnte man Deinen Beitrag auch betiteln, denn selbstverständlich haben die Professoren in Fachgruppen und anderen hochschulpolitischen Foren Leistungsanreize und Belohnungssysteme geschaffen, die dazu ermutigt Kreditpunkte sammeln und Maluspunkte zu vermeiden. Heißt im Klartext: Wer fachübergreifend Lehrveranstaltungen zu besucht, „einfach mal so“ gute Bücher liest, die nicht thematisch mit Seminaren und Prüfungsleistungen verknüpft sind, endlos zu jobben, abendelang mit Kommilitonen zu diskutieren oder Print- oder Online-Journale zu führen, der wird dafür mindestens nicht belohnt, möglicherweise sogar bestraft. Mir sind Dozenten bekannt, die Aufwand und Mühen nicht scheuten, um eine „Stilblütensammlung“ aus Aufsätzen ihrer LV-Teilnehmer zu erstellen und regelmäßig daraus zu zitieren, die „Publikumsbeschimpfung“ steht dem nicht nach. Schade für die deutsche Uni.

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