Blogs sind Wissenschaftler-Verbindungs-Maschinen » Ad-hoc-Gruppe beim Soziologentag | Werkstattnotiz LXXXIII

KooperationImmer wieder wird man als bloggender Wissenschaftler mit Fragen konfrontiert, ob denn diese seltsame Bloggerei überhaupt wissenschaftliche Relevanz habe, ob sich der ganze Aufwand denn auch nur annähernd lohne und man die Zeit nicht besser anderweitig nutzen solle.

Die Fragen sind – das vorweg – durchaus berechtigt und diskussionswürdig. Wenn man mehr als nur ein paar kurze Links setzt, dann ist wissenschaftliches Bloggen tatsächlich ein zeitraubendes Vergnügen.1 Und natürlich gäbe es auch alternative Formen, wie man sich die Zeit vertreiben könnte.

Sind Wissenschaftsblogs nicht ein zeitraubendes Vergnügen? Wo bleibt der Mehrwert?

Allerdings gehöre ich nicht zu den Zeitgenossen, die ihr Handeln unter die Prämisse stellen, daß es möglichst ständig und unmittelbar einen Mehrwert und handfesten Nutzen abwerfen müsse. In gewissem Sinne halte ich eher die umgekehrte Strategie für empfehlenswert: nämlich das Handeln aus Überzeugung, Begeisterung und der Lust an der jeweiligen Tätigkeit, ungeachtet des jeweils direkt verwertbaren Nutzens.

Langer Atem, oder: Wissenschaftsblogger bohren dicke Bretter

Was ich sagen will: wer heute wissenschaftlich zu bloggen beginnt, sollte sich keine Illusionen machen. Es wird wohl kaum nächste Woche der Vertrag für die hochdotierte Forscherstelle im Briefkasten liegen, nur weil man 1-2 schlaue Gedanken publiziert hat. Wissenschaftliche Blogger sind Ausdauersportler. Wer kontinuierlich am Ball bleibt, darf aber mit netten Überraschungen rechnen…

Und gar so nutzlos ist die wissenschaftlicher Bloggerei ja eben nicht. Denn ein Blog ist durchaus geeignet, um das eigene wissenschaftliche Tun zu begleiten, zu unterstützen und mit neuen Impulsen anzureichern. Und letztlich ist ein Wissenschaftsblog auch wissenschaftlich „relevant“ – ein Beispiel gefällig?

Auch Wissenschaft 1.0 profitiert: Forscher vernetzen sich in ihren Blogs und kollaborieren ganz konventionell. Offline!

Vom 6.-10. Oktober 2008 findet in Jena unter dem Titel „Unsichere Zeiten“ der 34. Deutsche Soziologentag statt. Und wie ich vor wenigen Tagen erfahren habe, wurde ein gemeinsamer Antrag für eine sog. „Ad-hoc Gruppe“ bewilligt.

Die Besonderheit: die Antragssteller sind erstens alles Wissenschaftsblogger und zweitens hätten sie ohne ihre Blogs vermutlich niemals voneinander Kenntnis genommen, geschweige denn einen Antrag für den Soziologentag formuliert.

Der Soziologentag wäre ohne Wissenschaftsblogger ärmer…

Kurz: ohne Wissenschaftsblogs wäre diese Kooperation und diese Teilveranstaltung des Soziologentags niemals zustande gekommen. Wer braucht da noch Indizien für die Relevanz von Wissenschaftsblogs?

Wie man inzwischen unschwer erraten kann, bin ich selbst Teil der Gruppe. Federführend sind Lars Alberth2 und Benedikt Köhler aufgetreten, daneben werden Tina Guenther und Kai-Uwe Hellmann mit dabei sein.

Unseren erfolgreichen Antrag haben wir u.a. so begründet:

“Seitdem das Internet in den letzten Jahren „sozialer“ geworden ist, d.h. dass Anwendungen, Software und Praktiken individualisierter und in ihrer Kommunikationsform symmetrischer geworden sind, sehen sich alle beteiligten Akteure mit einer enormen Komplexitätssteigerung konfrontiert: Eine Vielzahl an Stimmen, Bewertungsmaßstäben und – instrumenten, individualisierten Suchmaschinen und gemeinschaftlichen Indexierungen in tag clouds oder social bookmarks bilden eine überreiche Informationsstruktur, die zunächst einmal kognitiv, sozial und technologisch reduziert werden muss, um darin handeln zu können.

Welche etablierten Akteure sehen sich durch die Sozialisierung des Netzes herausgefordert, wie reagieren diese und welche Folgen hat dies für die Kommunikation und Wissensordnungen?

Wie regulieren die soziotechnologischen Innovationen die Kommunikations- und Wissensordnungen im Netz?“

Die einzelnen Vorträge sind:

  • Benedikt Köhler: WWWissensordnungen in der Zweiten Moderne – vom Kategorienbaum zur Tagcloud
  • Lars Alberth:Hegemonie und Repräsentation im sozialen Netz: Wer spricht für die Blogosphäre?
  • Tina Guenther: Vertrauen, Macht und Unsicherheit im neuen Netz – das Beispiel Online-Identität
  • Kai-Uwe Hellmann: Unternehmenskulturrevolution durch Web 2.0.
  • Marc Scheloske: Das Risiko der Risikokommunikation 2.0: Wie sich Technologie- und Risikokonflikte im Internet darstellen und verändern.

Ich selbst werde mich also wieder der Frage nach Praktiken und Formen der Risikokommunikation zuwenden, die ich ja 2005-2006 im Rahmen einer internationalen Studie für die EU-Kommission analysiert hatte. Gleichzeitig – und das ist eben der neue Akzent – werde ich mir gezielt die Transformationen vornehmen, die sich a) durch den Wandel der Mediennutzung und b) durch die fortschreitende Vertrauenserosion in die einstigen „Experten“ ergeben. Und das Web 2.0, die Foren und Blogs sind hier ein denkbar gutes Anschauungsobjekt.

Im Antrag hatte ich das so skizziert:

Das Risiko der Risikokommunikation 2.0: Wie sich Technologie- und Risikokonflikte im Internet darstellen und verändern

Risiko- und Technologiekontroversen im Web verlaufen nach eigenen Spielregeln. Welche Argumente, welche Quellen, welche Akteure eine Bedeutung haben, wird nach neuen Mustern ausgehandelt. Die etablierten Akteure und Stakeholder (Wissenschaft, Experten, Politik etc.) sind nur noch ein Bezugspunkt unter vielen anderen.

Strittige Fragen und Risikothemen werden in Foren und Weblogs diskutiert und es wird deutlich, dass die Autorität institutionalisierter Expertise längst brüchig geworden ist. Die Auseinandersetzung mit Pseudo-Wissenschaften oder verschwörungstheoretischen Standpunkten wird mit harten Bandagen geführt.

Durch die teilweise Verlagerung der gesellschaftlichen Risiko- und Technologiedebatten ins Internet, stellen sich für die Soziologie folgende Fragen:

1. Wie können die Potentiale des „neuen Netzes“ im Sinne einer vorausschauenden Risikokommunikation genutzt werden? Welche Chancen bieten die Möglichkeiten, die der Dialog auf Augenhöhe bietet? Welche Aspekte des „Mit-Mach-Netzes“ können die Bürger zu mehr „Risikomündigkeit“ (O. Renn) befähigen?

2. Wie stellen sich die „traditonellen“ Akteure dieses Feldes auf das neue Medium ein? Wie reagieren sie auf die Konfrontation damit, daß im Netz die „Heterogenität von Wissen“ sichtbar wird? Wie gehen sie mit dem Machtverlust und der Autoritäts-Erosion um? Welche Praktiken führen Wissens-Autorität (evtl. durch die Hintertür) wieder ein?

Ich freue mich auf alle Fälle auf Jena3 und die weitere Zusammenarbeit mit den anderen bloggenden Sozialwissenschaftlern. Und man merke sich: Wissenschaftliche Blogs sind ganz hervorragende Wissenschaftler-Verbindungsmaschinen. Ohne diese Kooperationsinfrastruktur gäbe es zumindest die oben beschriebene „Ad-hoc Gruppe“ nicht.



  1. Wobei die Betonung auf „Vergnügen“ liegt!! []
  2. Und Lars sei hier nochmal ein besonderer Dank ausgesprochen, da er koordinierend tätig war und wohl die meiste Zeit investiert hat. []
  3. Nicht nur, weil dort netterweise am 8. Oktober die vorzügliche Rock’n’Roll-Swing-Punk-Indie-Band „Die Sterne“ aufspielen wird. :-) []

14 Gedanken zu „Blogs sind Wissenschaftler-Verbindungs-Maschinen » Ad-hoc-Gruppe beim Soziologentag | Werkstattnotiz LXXXIII“

  1. Ja, die Erfahrung des Dick-Brettbohrens wird jeder Wissenschaftsblogger aus eigener Erfahrung bestätigen können, aber Dein Maschinen-Vergleich hinkt ein wenig, finde ich, das ist eine Überbetonung der technischen Komponente. Selbstverständlich gehört auch eine technische Komponente auch mit dazu, aber auch Leute, denen die erforderlichen Vorkenntnisse und Qualifikationen fehlen, um Content, Code und Metadaten auf das Raffinierteste zusammenzuschrauben oder kreativ neu zu kombinieren, können ja bloggen. Ich würde vorschlagen, Wissenschaftsblogs als frei zugängliche, globale Infrastruktur für verteilte Gespräche [selbstverständlich auch sehr kontroverse Debatten :-)] in der öffentlichen Sphäre zu begreifen, welche die Grenzen der professionellen Vereinigungen, Forschungsinstitutionen und Hochschulen überwindet und ihre besonderen Stärken bei der Etablierung produktiver Netzwerke entfaltet [passt auch besser zu Habermas‘ Strukturwandel der Öffentlichkeit revisited und zum Wissenschaftscafé].

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  2. @Tina:

    …Dein Maschinen-Vergleich hinkt ein wenig, finde ich, das ist eine Überbetonung der technischen Komponente.

    Du hast sicher recht, daß die Analogie nicht 100% stimmig ist. Ich möchte sie auf alle Fälle nicht in der Weise verstanden wissen, als wären Wissenschaftsblogs Automaten die quasi aus sich heraus die Verbindungen herstellen könnten. Es kommt immer noch auf die Nutzungsweise an, auf den Maschinenführer, wenn ich schon wieder den Vergleich herstellen will.

    Mit Deinem alternativen Vorschlag liegst Du recht nah bei meinen versuchsweisen Definitionen und auch oben habe ich ja im letzten Satz davon geschrieben, daß Blogs die „Kooperationsinfrastruktur“ darstellen. Keine Frage, deine Erläuterungen treffen es besser. Aber sie sind nicht so griffig. ;-)

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  3. Muss sagen, dass mir der Maschinen-Vergleich gefällt. Er hat so etwas angenehm anti-alteuropäisches ;-) Außerdem sind es ja tatsächlich die technischen Besonderheiten (Trackback, Hyperlinks), die hier eine neue Form wissenschaftlicher Kommunikation ermöglichen. Insofern finde ich, dass dein Argument, Tina, Blogs können auch von „Code-Analphabeten“ bedient werden, dazu sehr gut passt. Auch wenn man ein Blog nur so bedient wie man ein Papiertagebuch bedienen würde, trägt man – ohne sich dessen bewusst zu sein – zur Vernetzung bei (zumal häufig das Anpingen von Diensten wie Technorati voreingestellt ist). Wenn das mal kein Eigenleben der Maschine ist.

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  4. @florian:

    Oh, gut. Ich komme dann ggf. auf Dich zu. Ich muß ja gestehen, daß ich noch nie in Jena war. Wird vermutlich Zeit.

    @alle:

    Ach herrje, da habe ich ja was angerichtet. ;-)

    Wobei ich natürlich den Vergleich nicht bemüht hätte, wenn ich ihm gar keine Sachadäquanz beimessen würde.

    Soll heißen: ich bin tatsächlich der Ansicht, daß Blogs in gewisser Weise kleine, tuckernde, digitale Maschinen sind, die unter der Motorhaube ein bestimmtes Instrumentarium beherbergen, das sich eben vorzüglich zur Vernetzung in der wissenschaftlichen Sphäre einsetzen läßt.

    Die Analogie soll vielleicht eher so verstanden werden, wie diejenige, wenn ich Autos als Mobilitäts-Maschinen bezeichne. Autos bringen mich von A nach B, allerdings liegt es an mir, ob ich als Steuermann der Mobilitätsmaschine den geraden Weg wähle, Umwege fahre oder (wenn es dumm läuft) an den nächsten Baum. Und (das bzgl. Tinas Anmerkung): es ist nicht unbedingt notwendig, daß ich weiß, wie man den Keilriemen austauscht – Mobilitätsmaschine starten, losfahren, ankommen. (Wenigstens wenn alles gut geht.)

    Und ähnlich funktionieren Wissenschaftsblogs: man dreht den Schlüssel rum, startet und schaut sich in der Landschaft um. Wohin man fährt, ob man Gas gibt, eine Pause macht oder die Tankstelle ansteuert – das liegt im Ermessen des Maschinenführers, ähm…, Bloggers. ;-)

    Und wenn alles gut läuft, dann dient diese wissenschaftliche Blogmaschinerie zur Vernetzung, Kooperation, stiftet neue Zusammenhänge, gibt Impulse etc. Und manchmal (bzgl. Benedikts Eigendynamikhinweis) fährt die Maschine auch an Orte, die man vorher nicht kannte.

    Generell gilt: man kann natürlich zu Fuß gehen (=Wissenschaft 1.0), aber spannender ist es evtl. wenn man so eine Wissenschaftler-Verbindungs-Maschine nutzt (=Wissenschaft 2.0). Und ein Wechsel zwischen den beiden Sphären ist ja jederzeit möglich…

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  5. Oh, ich bin ganz der Meinung, dass Weblogs kleine digitale Biester sind, die sich einfach entscheiden können, nicht mehr lesbar sein zu wollen… Regierungsmaschinen, sag ich euch, Mediengouvernementalität…Grmpf. Soll heißen: Mein eigenes Weblog hat einen Totalausfall, weil die Lese- Schreib- und Ausführungs-Settings erst zu frei eingestellt waren und nun dank einer restriktiveren Servereinstellung erst mal gar nicht wollen. Mag sein, dass nun jeder ein Weblog führen kann… aber es ist auch umgekehrt: Die Weblogs können eben nun auch jeden….

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  6. Wird ja immer netter hier, nur bei der Maschinenmetapher bekomme ich leider Ausschlag, weil sie genau wie die Maschinenmetapher der Organisation nur einen Bruchteil von dem zum Ausdruck bringt, was die eigentliche Tätigkeit, hier das Bloggen, eben ausmacht. Mir würden Organismus- bzw. Gehirnmetaphern besser gefallen, weil man Entstehen und Vergehen, Komplexität und Vernetzung, das Bewusste und das Unbewusste, das Lernen und das Vergessen, Strukturmuster und dynamische Entwicklung drin hat. @ Benedikt: Es wird viel zu viel in das Computer-Interface bzw. das Internet als Technologie hineingehypt, und was Verständigung in Foren wie diesem vereinfacht ist halt auch Homogenität der Teilnehmer nach sehr vielen Variablen, weil das Netz so eine nette Kommunikationsinfrastruktur ist, die mit ihren Funktionsweisen gleiche und ähnliche Wesen zusammen bringt :-).

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  7. Natürlich ist die Maschinenmetapher eine Reduktion auf einen Bruchteil dessen, was Sache ist. Wie jede andere Metapher auch. Wie jede Landkarte auch. Das macht doch auch ihren Vorteil aus. Zur Gehirnmetapher gibt’s eine schöne Passage von Flusser, der darauf hinweist, wie man früher den Computer als Gehirn beschrieben hat („Ein Elektronengehirn“) und jetzt das Gehirn als Computer beschreibt. Man tauscht zwei Unbekannte aus und suggeriert Erkenntnis. Was Entstehen und Vergehen betrifft, hat die Maschinenmetapher nicht viel zu tun, da sie im wesentlichen ahistorisch oder besser posthistorisch ist. Nur glaube ich, dass das der Medienwirklichkeit des 21. Jahrhunderts auch besser entspricht. Komplexität und Vernetzung sind dagegen Begriffe, die aus der Kybernetik selbst schaffen, also aus der Mutterdisziplin der Maschinenmetapher. Hier bin ich noch nicht überzeugt, ob pflanzliche Bilder (Rhizom) tatsächlich besser passen. Bewusst und Unbewusst könnte man z.T. auch als blackboxing beschreiben. Wie auch immer: je nach Metapher sieht und betont man unterschiedliche Aspekte, also möchte ich mich hier nicht auf eine Sichtweise festlegen. Ich denke aber, dass die neuen dialogischen Kommunikationsmöglichkeiten des Netzes kein Hype sind, sondern tatsächlich eine neue mediale Form des Miteinandersprechens ist.

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  8. … aber das charakteristische ist doch, dass sich hinter den Interfaces Menschen befinden, mehr noch, die Interfaces von (genau bestimmten, uns z.T. genau bekannten) Personen, Gruppen und Organisationen gestaltet, administriert und verwendet werden. Wir müssen nicht nur Vertrauen darin haben, dass das Computerinterface und das Netz als Infrastruktur einwandfrei funktionieren und nichts anderes tut als sie sollen, sondern auch den Personen, Gruppen und Organisationen, die sie geschaffen haben, adminstrieren, verwenden die Wissenschaftler-Blog-Kommunikation hier ist ja sowohl in netzwerkförmige Sozialstrukturen und normative Muster der Online-Community eingebettet (leicht zu erkennen an Marcs Kommentarregeln), sondern auch in die Offline-Wissenschaft. Das relativiert die Bedeutung der Maschine, weil wir Verwendungsregeln selbstverständlich voraussetzen (die aber ohne Online-Community, Administratoren und Herausgeber der einzelnen Online-Angebote nie ihre Verbindlichkeit erreicht hätten). Auch teilen wir Sprache und Relevanzstrukturen im Rahmen der wissenschaftlichen Kommunikation. Das alles erleichtert die Verständigung jenseits der Maschine. … Historisch neu – klar, so neu wie Buch, Zeitung, Rundfunk, Fernsehen, Telefon oder Fax nach ihrer Erfindung jeweils auch, und das Spannende finde ich hier die Verbindung der Formate Text, Bild, Audio, Video, Foliensatz usw. und die erhebliche Aufwertung des Prodnutzers. An der Stelle treffen wir uns dann wieder.

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  9. Also ich bin ja auch immer skeptisch gegenüber jeder Form von Mediendeterminismus… aber: Vielleicht müsste man die unterschiedlichen Trajectories berücksichtigen. Zum einen, da hat Tina recht, setzen wir ein gewisses Vertrauen in die Technologie, dass sie nicht plötzlich anders funktioniert. Es gibt aber genügend Ereignisse im Leben eines solchen Blogs, die genau dieses Vertrauen herausfordern: z.B. war ich jetzt ca. 5 bis 6 Tage mit meinem Blog offline, weil ich nicht genügend Wissen über die Sicherheitseinstellungen eines Servers und den darauf liegenden Daten hatte. Aber ich hatte auch schon mehrfach nach Updates das Problem, das einzelne Plugins nicht funktionieren usw. Nun sind das Effekte, die ich unter „Technik als zweite Natur“ subsumiern würde, die als Komplexität oder „nicht intendierte Nebenfolgen“ zurückwirken; aber genau so verstand ich das „Eigenleben der Maschinen“ von Benedikt.
    Insofern würde ich behaupten, dass wir diese Maschinen besitzen/besetzen, wie wir einen Körper besitzen/besetzen, den wir auch nicht vollständig steuern und handhaben können. Lacan hat dafür mal den Begriff des „Realen geprägt“, der immer dann auftaucht, wenn zwischen dem Symbolischen Register und dem Imaginären ein Riß auftaucht. Wenn also Begehren und Norm nicht deckungsgleich sind.
    Parallel dazu würde ich dann die interface- Interaktionen (doofe Präfix-Dopplung) der Nutzer ansetzen. Das heißt hier kommen dann die eigentlichen Prakiken der Vernetzung und der Kommunikation. Und da glaube ich eignen sich Metaphern wie Netz und Rizhom doch ziemlich gut, weil sie eine Oberflächenlogik annehmen und nicht von einer Tiefenstruktur (das ist ja auch ein bißchen das Problem mit Luhmann und der doppelten Kontingenz der Systemtheorie seit Parsons: Eigentlich wird it dem Black-Box-Modell eine Kausalitätsannahme getroffen: nämlich dass es tatsächlich Ursachen in der Tiefenstruktur gibt, dass sie bloß aufgrund ihrer anderen Medialität (psychisches Erleben) nicht sozial kommunizierbar sind, d.h. in einem anderen Medium adäquat abbildbar seien. Nichts desto trotz wird davon ausgegangen, dass da drinnen etwas passiere.
    (Wahrscheinlcih habe ich jetzt in ein Wespennest gestochen).

    Nun argumentieren gerade aber die Medientheorien (den Flusser kenne ich zu wenig, aber für Baudrillard, Luhmann, Virilio, von Foerster und Kittler dürfte das gelten) häufig mit Evolutionstheorien und stehen damit selbst in der Tradition einer Naturmetapher. Wenn Deleuze und Guattari vom Rhizom sprachen, dann meinten sie damit eigentlich eher das Wuchern als ein Entwickeln – also ein blindes Vermehren (was sie in einen Gegensatz zu den Naturwissenschaften und ihren Vorstellungen von systematischen Gesetzmäßigkeiten bringt). Schließlich hatten die ja selbst einen Maschinenbegriff, der die Aneignung und gezielte Strukturierung eines Gefüges bezeichnen sollte. Das spricht aber dafür, dass man sich die unterschiedlichen Ebenen anschauen sollte: Also, Veränderungen der technologischen Infrastruktur, Aneignungsweisen der Nutzer, Rückkopplungen etc.

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  10. Bei der Organismusmetapher hatte ich v.a. an die eigene Ausstattung gedacht (weniger an wuchernde Geschichten). Der Organismus macht ganz selbstverständlich, was er soll, auch wenn seine Strukturen und Prozesse nicht kennt, und dass man ihn hat, fällt einem v.a. auf, wenn seine Funktionalität deutlich eingeschränkt ist. So benutzt man ja im Alltag auch den Computer, wenn man ihm quasi menschliche Attribute andichtet: „Mein Computer spinnt heute“ (obwohl man es meist besser weiß). Ebenso beim Gehirn – da gibt es ja auch die Analogie von Internet und Gehirn- bzw. Nervenzellen und immer neuen Verbindungen und des Anküpfens des Neuen an das Bekannte, das spricht ja vor allem die Wissens-, Lern- und Entwicklungsdimension des Internet an.

    Das komplexe Zusammenspiel von sozialen und technischen Faktoren beim Netz wird einem bewusst, wenn man Eltern, Freunden oder Verwandten zu erklären versucht, wie Spam oder Viren auf die eigene Platte kommen, die Kommunikation stören und alles beschädigen sollen. Die Spam-Mail soll den Adressaten verunsichern, ist aber i.d.R. kein Angriff auf Reputation und Identität einer konkreten Person. Auch man kann lange nach dem Typ suchen, der sie geschrieben hat. Und wenn der Schadensfall eingetreten ist: Wer kann einen Hals auf wen oder was haben? Bleibt manchmal unklar. Was bleibt ist, dass es möglich ist, dass sich ein Systemvertrauen ins Netz etabliert, aber eine systemische Beschädigung bzw. Verletzung im Netz und durch das Netz nicht ausgeschlossen werden kann. Auch ich bin skeptisch gegenüber Mediendeterminismus und jeder Art von technologischer Heilsverkündigung, glaube aber, dass sich die Argumentation, wenn man sie so führt, dass konkrete Akteure und Institutionen identifizierbar werden (und die Punkte definiert werden, an denen sie nicht mehr auffindbar sind), in deutlicher Entfernung davon befindet.

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  11. Tina,

    @Organismus wahrnehmen, wenn er gerade nicht funktioniert:

    Genau das meinte ich mit der Lacanschen Kategorie des „Realen“ und der These, dass man Maschinen besitzt, wie man einen Körper besitzt. Das Eigenleben dieser Maschinen ist ja kein vitales, sondern ein Einbruch in die Erwartungshaltungen des Users.
    Allerdings greift die Körpermetapher auch nur dann, wenn man den Körper oder den Organismus selbst als etwas Objektiviertes begreift. Mit der Leibmetapher haut das nämlich nicht hin.

    Ich glaube, wir sind da ziemlich auf einer Linie.

    Und das wuchernde Rhizom: Ist ja nur eine Erweiterung meines Arguments, dass Netzwerke überr keine Tiefe verfügen.

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